OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 16.11.2017 - 1 Bs 230/17 - asyl.net: M25852
https://www.asyl.net/rsdb/M25852
Leitsatz:

Ist ein Ausländer, der nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft rechtzeitig die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis beantragt hat, aufgrund - rechtswidriger - Ablehnung des Verlängerungsantrags rechtlich gehindert, im Jahr nach Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis eine eigenständige wirtschaftliche Existenz zu begründen, so kann für die Folgezeit ein Ausnahmefall vom Regelerteilungserfordernis, den Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, vorliegen. Bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, kann in Anlehnung an § 31 Abs. 2 Satz 4 AufenthG auch darauf gesehen werden, ob der Ausländer bereits während der Restlaufzeit der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis Bemühungen um eine eigenständige Lebensunterhalts­sicherung entfaltet hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Sicherung des Lebensunterhalts, Arbeitserlaubnis, Rechtswidrigkeit, Fiktionswirkung,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 31 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

18 Sie weist zu Recht darauf hin, dass das Verwaltungsgericht eine Annahme zugrunde lege, die in ihrem Fall nicht gegeben gewesen sei. Zwar meine das Verwaltungsgericht zutreffend, die Regelung des § 31 Abs. 4 Satz 1 AufenthG bezwecke, dem Ausländer die Möglichkeit einzuräumen, im ersten Jahr nach dem Scheitern der Ehe eine eigene wirtschaftliche Existenz zu begründen. Das Verwaltungsgericht verkenne aber, dass ihr diese Möglichkeit gerade nicht eingeräumt worden sei, da ihr Verlängerungsantrag schon gut zwei Monate nach Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden sei. Weiter habe das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass ein ausländischer Ehegatte nach Auflösung der ehelichen Lebensgemeinschaft auch im Schutz einer (durch einen rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrag ausgelösten) Fiktionswirkung eine eigene wirtschaftliche Existenz begründen könne; aus diesem Grund sei die Dauer einer Fiktionswirkung im Anschluss an die ehebezogene Aufenthaltserlaubnis als "erste Verlängerung" anzurechnen. Zutreffend weist die Antragstellerin darauf hin, dass hierbei der tatsächliche Verfahrensablauf ihres Falles nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Zwar hatte der zunächst nicht beschiedene Verlängerungsantrag vom 16. Juni 2014 ab dem Ablauf der bis 27. Juli 2015 gültigen ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis die Fortgeltungswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 ausgelöst; die Fiktionsbescheinigung enthielt auch die Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit erlaubt". Diese Wirkung erlosch aber bereits mit Zustellung des Ablehnungsbescheids vom 30. September 2015, wie sich aus § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ("gilt ... bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend") ergibt und auch im Tenor des Bescheides erwähnt wurde. Damit galt der Aufenthalt der Antragstellerin nur gut zwei Monate über die Geltungsdauer der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis hinaus als erlaubt. In der Folgezeit erhielt die Antragstellerin nur noch jeweils verlängerte Grenzübertrittsbescheinigungen, aufgrund derer ihr eine Erwerbstätigkeit nicht erlaubt war. Damit war es aber nicht möglich, sich im Jahr nach Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis eine eigene Existenzgrundlage zu schaffen. Es spricht auch viel dafür, dass – wie die Antragstellerin vorbringt – diese besondere Situation zumindest bei der Prüfung einer Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hätte berücksichtigt werden müssen. [...]

29 Der Fall der Antragstellerin unterscheidet sich indes dadurch von der Grundannahme der gesetzlichen Regelung in § 31 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG, als sie – abgesehen von den zwei Monaten zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis und der Ablehnung des Verlängerungsantrags – infolge dieser Ablehnung gerade nicht die Möglichkeit hatte, im Jahr nach dem Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis eine eigenständige wirtschaftliche Existenz zu begründen. Allerdings kann hierbei nicht schematisch allein auf die Umstände im unmittelbar auf den Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis folgenden Jahr abgestellt werden. Eine ehebezogene Aufenthaltserlaubnis wandelt sich weder von sich aus mit dem Ende der ehelichen Lebensgemeinschaft in eine eigenständige Aufenthaltserlaubnis um, noch entsteht bereits zu diesem Zeitpunkt der Anspruch nach § 31 Abs. 1 AufenthG; vielmehr entsteht dieser erst mit dem Ablauf des ehebezogenen Aufenthaltstitels und setzt einen darauf gerichteten Antrag voraus (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2013, a.a.O., Rn. 14). Die Zeitdauer, in der die ehebezogene Aufenthaltserlaubnis nach endgültiger Trennung der Eheleute noch fortgilt (soweit sie nicht nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nachträglich befristet wird), kann somit im Einzelfall durchaus erheblich sein. In dieser "Restlaufzeit" ist der Ehegatte berechtigt, eine Erwerbstätigkeit auszuüben (§ 27 Abs. 5 AufenthG) und hat somit grundsätzlich die Möglichkeit, sich bereits in dieser Zeit um eine Beschäftigung zu bemühen. Zwar ist der Ehegatte ausländerrechtlich hierzu nicht verpflichtet, doch kann vorwerfbares Verhalten insoweit bereits im ersten Jahr nach dem Ende der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis durch eine Versagung der Verlängerung sanktioniert werden (§ 31 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Dieser Gedanke kann dementsprechend für die nachfolgende Zeit auf die Prüfung übertragen werden, ob ein Ausnahmefall von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorliegt. [...]