VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2017 - 23 L 896.17 A - asyl.net: M25809
https://www.asyl.net/rsdb/M25809
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten:

1. Auch wenn das BAMF eine längere Ausreisefrist (30 Tage) festsetzt, statt die in § 35 AsylG für Unzulässigkeitsablehnungen bei Schutzberechtigung in EU-Staat vorgesehene (eine Woche), ist der Eilantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässig.

2. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis entfällt hier nicht deswegen, weil die Klage aufschiebende Wirkung hat. Denn Betroffene haben wegen der besonderen Regelung in § 37 Abs. 1 S. 2 AsylG, wonach das BAMF das Asylverfahren fortzuführen hat, ein schutzwürdiges Interesse an einer gerichtlichen Eilentscheidung.

3. Anerkannten Schutzberechtigten droht in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK. Anerkannte Schutzberechtigte, die in Griechenland vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind, stehen behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber, obwohl sie sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (mit ausführlicher Darstellung der aktuellen Erkenntnislage zu Griechenland).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Griechenland, Drittstaatenregelung, Abschiebungsverbot, Europäische Menschenrechtskonvention, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit, Menschenwürde, Zulässigkeit, Rechtsschutzinteresse, internationaler Schutz in EU-Staat,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AsylG § 37, AsylG § 37 Abs. 1 S. 2, AsylG § 35, AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Eilantrag ist zulässig. Er ist nach der Rechtsprechung der Kammer insbesondere gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG statthaft, auch wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) in der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides vom 4. Dezember 2017 eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens festgesetzt hat (vgl. Beschlüsse vom 1. Dezember 2017 - VG 23 L 767.17 A -, vom 9. Oktober 2017 - VG 23 L 689.17 A - und VG 23 L 687.17 A sowie vom 27. September 2017 - VG 23 L 685.17 A -, jeweils Abdruck S. 2; ebenso VG München, Beschluss vom 17. Oktober 2017 - M 21 S 17.44736 -. juris Rn. 21). Denn nach der der Abschiebungsandrohung zugrundeliegenden, in Ziffer 1 des Bescheides auf der Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG getroffenen Entscheidung über die Zulässigkeit des Asylantrages wäre gemäß §§ 35, 36 Abs. 1 AsylG eine Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe der Entscheidung festzusetzen gewesen. Maßgeblich für die aufschiebende Wirkung der Klage ist aber die zu setzende, nicht die vom Bundesamt tatsächlich gesetzte Ausreisefrist.

Auch das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis liegt vor. Der Antragsteller kann zwar auf der Grundlage der verfügten Abschiebungsandrohung mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen ab unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens für die Dauer des anhängigen Klageverfahrens nicht abgeschoben werden. Von dieser Abschiebungsandrohung hat auch die zur Vollstreckung berufene Ausländerbehörde auszugehen. Sie könnte den Antragsteller selbst unter Zugrundelegung der dargestellten Auffassung der Kammer. Geltung einer Ausreisefrist von einer Woche ab Bekanntgabe nicht früher abschieben, weil es an einer vollstreckbaren Abschiebungsandrohung mit diesem Inhalt fehlt und die Behörde nicht die Befugnis hat, sich hierüber hinwegzusetzen. Jedoch ergibt sich ein schutzwürdiges Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung im Eilverfahren aus § 37 Abs. 1 AsylG. Nach Satz 1 dieser Vorschrift werden in den Fallgestaltungen der vorliegenden Art sowohl die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als auch die Abschiebungsandrohung unwirksam, wenn dem Eilantrag stattgegeben wird. Die damit einhergehende Beschleunigung des nach § 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG ohne weitere gerichtliche Entscheidung fortzusetzenden Asylverfahrens begründet ein berechtigtes Interesse der Antragsteller an einer Entscheidung im Eilverfahren (vgl. demgegenüber Beschluss der Kammer vom 14. November 2017 - VG 23 L 737.17 A -, Abdruck S. 3 f. zu einem Fall, bei dem § 37 AsylG keine Anwendung findet). [...]

Die Androhung der Abschiebung nach Griechenland in Ziffer 3 des Bescheides ist jedoch gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG rechtswidrig, weil der Abschiebung s. des Antragstellers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK entgegensteht.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können sich auch die - staatlich verantworteten - allgemeinen Lebensverhältnisse als eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art 3 EMRK darstellen. Eine Verletzung von Art 3 EMRK setzt allerdings ein Mindestmaß an Schwere voraus, für das das Bestehen einiger Mängel nicht reicht (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande, ZAR 2013, S. 336 (337 f.]). Diese Norm verpflichtet nicht, jede Person innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs mit einem Obdach zu versorgen oder sie finanziell zu unterstützen, um ihr einen gewissen Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande -, ZAR 2013, 336 [337] und Urteil vorn 21. Januar 2011 - 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland -, NVwZ 2011, 413 [415]). Auch gewährt sie von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Allein die Tatsache, dass die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse bei einer Überstellung bedeutend geschmälert würden, begründet grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Vorschrift (vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 - 27725/10, Mohammed Hussein/Italien und Niederlande -, ZAR 2013, 336 [337]). Die Verantwortlichkeit eines Staates ist jedoch dann begründet, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und - trotz ausdrücklich im nationalen Recht verankerter Rechte - behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09, M.S.S./Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413 [415 f.]; siehe auch EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. -, juris Rn. 86 ff.).

Gemessen an diesem Maßstab ist bei einer Gesamtwürdigung der zu Griechenland vorliegenden Berichte und Stellungnahmen vor allem von Nichtregierungsorganisationen, denen ein besonderes Gewicht zukommt, festzustellen, dass anerkannten Schutzberechtigte in Griechenland eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK droht (vgl. Urteil der Kammer vom 30. November 2017 - VG 23 K 463.17. A -, juris). Die Auswertung der hinreichend verlässlichen und auch ihrem Umfang nach zureichenden Erkenntnislage ergibt, dass anerkannte Schutzberechtigte, die in Griechenland vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind, behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber stehen, obwohl sie sich dort in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befinden, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Die Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse (Wohnraum, Nahrungsmittel und Zugang zu sanitären Einrichtungen) ist nicht einmal für eine Übergangszeit gewährleistet. Den anerkannten Schutzberechtigten droht vielmehr akute Obdachlosigkeit und Verelendung. Sie heben keine reelle Chance, sich in Griechenland ein Existenzminimum aufzubauen, zumal Rückkehrer mangels nachzuweisenden einjährigen legalen Aufenthalts keinen Zugang zum griechischen sozialen Solidaritätseinkommen haben. [...]