Wohnsitzauflage verstößt nicht grundsätzlich gegen Diskriminierungsverbot:
1. Wird die einer Person mit einer Behinderung erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen mangelnder selbstständiger Lebensunterhaltssicherung auf der Grundlage des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage versehen, verstößt dies regelmäßig weder gegen das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch gegen Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention.
2. Im Rahmen der Ermessensausübung hat die Behörde die individuellen Umstände der betroffenen Person abzuwägen. Hier reicht kein pauschaler Verweis auf die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Auflage.
(Leitsätze der Redaktion; zum Verstoß gegen UN-Behindertenrechtskonvention vgl. mit weiterer Begründung: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.2.2015 - 8 PA 13/15 - asyl.net: M22796)
[...]
9 Die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung führt nicht zu einer unmittelbaren Benachteiligung von Ausländern mit einer Behinderung. Bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung kann die Wohnsitzauflage in gleicher Weise gegenüber behinderten wie gegenüber nichtbehinderten Ausländern verhängt werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen - Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland, 2011, S. 42 f.).
10 Die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung führt auch nicht zu einer mittelbaren Benachteiligung von Ausländern mit einer Behinderung, etwa weil sie diese faktisch häufiger betrifft.
11 Zum einen ist das Vorliegen einer Behinderung nur einer von zahlreichen Gründen, die der Erzielung von Erwerbseinkommen und einer darauf aufbauenden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung entgegenstehen können (vgl. BSG, Urt. v. 16.6.2015 - B 4 AS 37/14 R -, juris Rn. 34). Zum anderen ist zweifelhaft, ob die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung überhaupt Menschen mit Behinderungen signifikant faktisch häufiger betrifft. Dabei verkennt der Senat nicht, dass Menschen mit Behinderungen häufiger als Menschen ohne Behinderungen in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sind und hieran anknüpfend bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit und der Erzielung eines Erwerbseinkommens benachteiligt sein können, und diese Nachteile auch durch die zahlreichen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht vollständig ausgeglichen sind [...]. Der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Ermessensentscheidung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit Nr. 12.2.5.2.2 Satz 1 AVwV AufenthG ist aber nicht die Ausübung von Erwerbstätigkeit und die Erzielung von Erwerbseinkommen, sondern die Lebensunterhaltssicherung ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG. In Bezug auf diesen Anknüpfungspunkt ist eine faktische Betroffenheit behinderter gegenüber nichtbehinderten Menschen kaum auszumachen. [...]
12 Im Übrigen läge in einer mittelbaren Benachteiligung behinderter Ausländer auch nicht zwangsläufig ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Denn hieraus folgt im Allgemeinen kein Anspruch darauf, dass eine konkrete mittelbare Benachteiligung unterbleibt oder beseitigt wird. Vielmehr steht Normgebern und Verwaltung bei ihrer Entscheidung darüber, ob und inwieweit sie dem grundgesetzlichen Fördergebot Rechnung tragen, regelmäßig ein Einschätzungsspielraum zu. Einerseits müssen sie die Auswirkungen einer behindertenbedingten Benachteiligung für die Betroffenen in den Blick nehmen. Andererseits haben sie rechtlich schutzwürdige gegenläufige Belange, aber auch organisatorische, personelle und finanzielle Gegebenheiten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.1999, a.a.O., S. 357; Beschl. v. 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288, 304 ff.; BVerwG, Urt. v. 5.4.2006 - BVerwG 9 C 1.05 -, BVerwGE 125, 370, 383).
13 Die danach gebotene Abwägung fällt zu Lasten der Ausländer mit einer Behinderung aus.
14 Diese können sich von vorneherein nicht auf das Grundrecht der Freizügigkeit nach Art. 11 GG berufen, denn dieses ist auf Deutsche beschränkt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 3.7.2001 - 2 BvR 1022/01 -, juris Rn. 2 mit weiterem Nachweis). Auch das durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG geschützte Recht, im Rahmen der Rechtsordnung jeden beliebigen Ort aufzusuchen (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94, 166, 198 f.), wird durch eine Wohnsitzauflage nicht berührt. Die Wohnsitzauflage tangiert vielmehr allein das auch Ausländern zustehende Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die davon umfasste Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes und des Wohnsitzes in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. BVerfG, Beschl. v. 9.2.2001 - 1 BvR 781/98 -, DVBl. 2001, 892, 893; Beschl. v. 18.7.1973 - 1 BvR 23/73 -, BVerfGE 35, 382, 399). Dieses Recht ist jedoch nur in dem durch Art. 2 Abs. 1 GG gezogenen Rahmen, insbesondere nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung gewährleistet. Zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört jede Rechtsnorm, die formell und materiell mit der Verfassung in Einklang steht. Dies ist hier § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, soweit er es gestattet, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung mit einer Wohnsitzauflage zu versehen. Nach der ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift in Nr. 12.2.5.2.1 AVwV AufenthG ist die Wohnsitzauflage darauf gerichtet, mittels einer regionalen Bindung die überproportionale fiskalische Belastung einzelner Länder und Kommunen durch ausländische Empfänger sozialer Leistungen zu verhindern. Sie soll dazu beitragen, einer Konzentrierung sozialhilfeabhängiger Ausländer in bestimmten Gebieten und damit einhergehenden Entstehung von sozialen Brennpunkten mit ihren negativen Auswirkungen auf die Integration von Ausländern vorzubeugen. Diese Ziele sind mit Blick auf behinderte und nichtbehinderte Ausländer gleichermaßen legitim und liegen im öffentlichen Interesse. [...]
15 b. Darüber hinaus ergibt sich auch aus den Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention kein allgemeines Verbot, gegenüber im Bundesgebiet lebenden Menschen mit Behinderungen auf gesetzlicher Grundlage eine Wohnsitzauflage zu verfügen (vgl. mit weiterer Begründung: Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 23.2.2015 - 8 PA 13/15 -, juris Rn. 14 ff.). [...]
16 2. Es ist aber zweifelhaft, ob die Aufrechterhaltung der Wohnsitzauflage im konkreten Fall noch verhältnismäßig ist und sich als ermessensfehlerfreie Entscheidung des Beklagten darstellt (vgl. zum Erfordernis einer die individuellen Umstände berücksichtigenden Ermessensentscheidung bei der Anordnung und Aufrechterhaltung einer Wohnsitzauflage: Bayerischer VGH, Urt. v. 9.5.2011 - 19 B 10.2384 -, juris Rn. 45; Hailbronner, Ausländerrecht, AufenthG § 12 Rn. 34 (Stand: Oktober 2010)). [...]
18 Hier spricht aber Einiges dafür, dass dieses öffentliche Interesse von dem widerstreitenden privaten Interesse der Klägerin an einer Aufhebung der Wohnsitzauflage überwogen wird. Sie lebt seit 1989 ununterbrochen im Bundesgebiet. Seit 2009 ist sie im Besitz eines Aufenthaltstitels, der seit Januar 2014 auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 AufenthG zum Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK erteilt und mit einer Wohnsitzauflage versehen ist. Neben dieser nunmehr seit fast vier Jahren bestehenden räumlichen Beschränkung (vgl. zum Einfluss der Dauer einer Wohnsitzauflage auf deren Verhältnis- und damit Rechtmäßigkeit: BVerwG, Urt. v. 15.1.2013 - BVerwG 1 C 7.12 -, BVerwGE 145, 305, 314; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 6.11.2017 - 8 LA 85/17 -, V.n.b., Umdruck S. 5 f.) ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin über Bindungen an Familienmitglieder verfügt, die sich außerhalb der ihr auferlegten räumlichen Beschränkung niedergelassen haben und mit denen sie zusammenleben möchte. Zudem ist die Klägerin nach dem vorgelegten Attest des Facharztes für Allgemeinmedizin und Arbeitsmedizin Dr. … aus ... vom ... 2017 (Blatt 44 der Gerichtsakte) "dauerhaft arbeitsunfähig" und damit objektiv zu einer selbstständigen Lebensunterhaltssicherung nicht in der Lage. Mit Blick auf die Erkrankungen der Klägerin und ihr Lebensalter erscheint eine für sie positive Änderung dieser Umstände derzeit unwahrscheinlich. Hinzu kommt, dass die Klägerin nach dem weiteren Attest des Dr…. vom ... 2017 (Blatt 45 der Gerichtsakte) "bei allen Gängen außerhalb der Häuslichkeit begleitet werden“ muss. Diese Einschätzung findet Bestätigung in dem Attest des Facharztes für Neurologie Dr. ... aus ... vom ... 2017 (Blatt 75 der Gerichtsakte). Auch das Gutachten des ... zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin vom 11. Mai 2017 (Blatt 46 ff. der Gerichtsakte) bescheinigt der Klägerin, dass sie zur Führung eines selbstbestimmten Lebens auf Hilfe und Unterstützung Dritter angewiesen sei und diese Hilfe derzeit von Familienangehörigen geleistet werde (vgl. zum Einfluss solcher Umstände auf die Anordnung und Aufrechterhaltung einer Wohnsitzauflage: Nr. 12.2.5.2.4.2 AVwV AufenthG). Seit 2017 ist die Klägerin als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung von 100 und auch dem Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bzw. erhebliche Geh- und/oder Stehbehinderung) anerkannt (vgl. Blatt 70 f. der Gerichtsakte). Unter Berücksichtigung dieser Umstände liegt es nicht fern, dem Interesse der Klägerin, zur besseren Gewährleistung der erforderlichen Hilfe und Unterstützung in den Haushalt ihres Bruders nach ... umzuziehen, ein das öffentliche Interesse überwiegendes Gewicht beizumessen. Nach dem eingangs dargestellten Maßstab kommt ihrer Klage, soweit sie auf die Aufhebung der zu ihrer Aufenthaltserlaubnis erteilten Wohnsitzauflage gerichtet ist, danach hinreichende Erfolgsaussicht zu. [...]