EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 20.12.2017 - C-442/16 Gusa gg. Irland - asyl.net: M25780
https://www.asyl.net/rsdb/M25780
Leitsatz:

Gleichbehandlung von Selbstständigen und Arbeitnehmenden bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit:

Nach Art. 7 Abs. 3 Bst. b Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG bleibt die Selbständigeneigenschaft erhalten, wenn eine Person, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten und dort etwa vier Jahre als Selbständige gearbeitet hat, diese Tätigkeit wegen eines bestätigten Auftragmangels aufgegeben und sich dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Freizügigkeitsrecht, selbständige Erwerbstätigkeit, Selbständigeneigenschaft, Aufenthaltsdauer, Sicherung des Lebensunterhalts, Arbeitslosigkeit, Unionsbürgerrichtlinie, Gusa,
Normen: RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 3 Bst. b, RL 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Bst. a,
Auszüge:

[...]

40 Zum einen ergibt sich nämlich aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38, dass diese zum Ziel hat, zur Stärkung des elementaren und persönlichen Rechts aller Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie zur Erleichterung der Ausübung dieses Rechts die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze, die für die vor dem Erlass dieser Richtlinie geltenden Instrumente des Unionsrechts, die insbesondere Arbeitnehmer und Selbständige getrennt behandelten, charakteristisch waren, durch einen einzigen Rechtsakt zu überwinden, mit dem diese Instrumente kodifiziert und überarbeitet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2014, Saint Prix, C-507/12, EU:C:2014:2007, Rn. 25).

41 Diesem Zweck würde es zuwiderlaufen, wenn Art. 7 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin ausgelegt würde, dass er nur Personen erfasst, die mehr als ein Jahr als Arbeitnehmer erwerbstätig waren, und Personen ausschließt, die dies als Selbständige waren.

42 Zum anderen würde eine solche Auslegung eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Personengruppen einführen, die nicht gerechtfertigt wäre im Hinblick auf das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel, durch die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft das Aufenthaltsrecht der Personen zu sichern, die ihre Berufstätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit aufgegeben haben, der auf von ihrem Willen unabhängigen Umständen beruht.

43 Denn wie ein Arbeitnehmer, der unfreiwillig seinen Arbeitsplatz infolge insbesondere einer Entlassung verlieren kann, kann sich eine Person, die einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, gezwungen sehen, diese Tätigkeit aufzugeben. Diese Person könnte sich somit in einer schwierigen Situation befinden, die mit der eines entlassenen Arbeitnehmers vergleichbar ist. Unter solchen Umständen wäre es nicht gerechtfertigt, wenn diese Person in Bezug auf die Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts nicht denselben Schutz genießt wie eine Person, die keine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer mehr ausübt.

44 Eine solche unterschiedliche Behandlung wäre umso weniger gerechtfertigt, als sie dazu führen würde, dass eine Person, die eine mehr als einjährige Erwerbstätigkeit als Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt und zum Sozialversicherungs- und Steuersystem dieses Mitgliedstaats durch die Entrichtung von Steuern, Abgaben und die Tragung von anderen ihre Einkünfte mindernden Kosten beigetragen hat, gleichbehandelt würde wie eine Person, die in diesem Mitgliedstaat erstmals eine Beschäftigung sucht, dort nie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt und nie Beiträge zu diesem System entrichtet hat.

45 Aus alledem folgt, dass eine Person, die eine mehr als einjährige selbständige Erwerbstätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von ihrem Willen unabhängigen Gründen beruhte, aufgegeben hat, ebenso wie eine Person, die unfreiwillig ihren Arbeitsplatz verloren hat, den sie über eine solche Zeitdauer innehatte, den Schutz des Art. 7 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 genießen kann. Wie in dieser Bestimmung vorgesehen, muss die Beendigung der Erwerbstätigkeit ordnungsgemäß bestätigt sein.

46 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass die Selbständigeneigenschaft für die Zwecke des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats erhalten bleibt, der, nachdem er sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten und dort etwa vier Jahre als Selbständiger gearbeitet hatte, diese Tätigkeit wegen eines ordnungsgemäß bestätigten Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruhte, aufgegeben und sich dem zuständigen Arbeitsamt des letztgenannten Mitgliedstaats zur Verfügung gestellt hat. [...]