VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 12.06.2017 - 7 K 6086/17.A - asyl.net: M25770
https://www.asyl.net/rsdb/M25770
Leitsatz:

Das Bundesamt muss Hinweisen darauf nachgehen, dass eine Asylsuchende Opfer von Menschenhandel ist. Die Ausreisefrist darf dann nicht weniger als drei Monate betragen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausreisefrist, Menschenhandel, Abschiebungsandrohung, offensichtlich unbegründet, Asylverfahren,
Normen: AufenthG § 59, AufenthG § 59 Abs. 7 S. 4, AsylG § 30, Asyl § 36,
Auszüge:

[...]

(a) § 59 Abs. 7 AufenthG ist auch auf Abschiebungsandrohungen, die das Bundesamt im Asylverfahren erlässt, anwendbar. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG, der für den Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt uneingeschränkt auf § 59 AufenthG verweist. Auch die Systematik der Norm unterstreicht dieses Verständnis, wenn in § 34 Abs. 1 Satz 3 AsylG geregelt ist, dass im Übrigen für Entscheidungen nach § 59 Abs. 1 Satz 4 und Absatz 6 AufenthG die Ausländerbehörde zuständig bleibt. Mit der Formulierung "im Übrigen" stellt der Gesetzgeber klar, dass grundsätzlich alle nach § 59 AufenthG zu treffende Entscheidungen mit der Verweisung auf die Zuständigkeit des Bundesamtes übergehen und hiervon nur die explizit aufgeführten Entscheidungen in der exklusiven Zuständigkeit der Ausländerbehörde verbleiben. Damit ist aber auch klargestellt, dass die im § 59 Abs. 7 AufenthG verwendeten Formulierung "Liegen der Ausländerbehörde …" keine abschließende und das Bundesamt ausschließende Zuständigkeit der Ausländerbehörden geregelt werden soll. Der Anwendbarkeit des § 59 Abs. 7 AufenthG lässt sich auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, sie stehe dem Beschleunigungsgebot des Asylgesetzes entgegen. Denn mit der Einräumung einer Bedenkzeit für Opfer von Menschenhandel u.ä. Delikten werden neben dem Opferschutz auch öffentliche Interessen an Strafverfolgung und Eindämmung derartiger gesellschaftsschädlicher Delikte verfolgt. Schließlich überzeugte auch eine Argumentation, die den Inlandsbezug der in Folge der Anwendbarkeit der Norm durch das Bundesamt zu prüfenden Sachverhalte als systemwidrig darstellte, nicht. Denn das Bundesamt hat für den Erlass einer Abschiebungsandrohung auch den inlandsbezogenen Aspekt des möglichen Besitzes eines Aufenthaltstitels zu prüfen. Im Übrigen ist mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Befristungsentscheidungen nach § 11 Abs. 2 und 7 AufenthG gem. § 75 Nr. 12 AufenthG die Trennung der Zuständigkeiten von Ausländerbehörden und Bundesamt in zielstaats- und inlandsbezogene Sachverhalte nicht mehr in jedem Fall aufrecht zu erhalten.

(b) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 59 Abs. 7 AufenthG liegen auch vor. Danach setzt die Behörde abweichend von Absatz 1 Satz 1 eine besondere Ausreisefrist fest, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Ausländer Opfer einer in § 25 Absatz 4a Satz 1 oder § 25 Absatz 4b Satz 1 genannten Straftat wurde. In diesen Vorschriften wird die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Opfer von Menschenhandel (§ 232 StGB), Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB) und Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§ 233a StGB) sowie Schwarzarbeit und Leiharbeit ermöglicht. Hier bestehen konkrete Anhaltspunkte, dass die Klägerin Opfer von Menschenhandel wurde. Nach § 232 Abs. 1 StGB liegt Menschenhandel vor, wenn jemand unter Ausnutzung ihrer persönlichen oder wirtschaftlichen Zwangslage oder ihrer Hilflosigkeit, die mit dem Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist, bei der Ausübung der Prostitution ausgebeutet werden soll. Zunächst steht schon der Reiseweg der Klägerin mit einem Flug von ... über ... nach ... und ihre Ausstattung mit total gefälschten Papieren (deutsches Schengenvisum und spanische Aufenthaltskarte) im krassen Widerspruch zu ihrer Schilderung, als alleinstehende Vollwaise ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung, ohne jegliche finanzielle Mittel und das erforderliche know-how die Einreise nach Deutschland unter den genannten Bedingungen realisiert zu haben. Ihre Erklärung dazu, dies habe ein christlicher Mann, der sie aus der Not habe retten wollen, binnen zweier Tage organisiert, ist ersichtlich völlig unglaubhaft. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass eine arbeitsteilig arbeitende und finanziell gut ausgestattete Organisation hinter dieser Ausreise steckt. Mit der in ihrem Gepäck bei der Einreise entdeckten erotischen Damenbekleidung in bemerkenswerter Anzahl dürfte das Ziel und der Zweck der Einreise hinreichend klar als beabsichtigte Ausübung der Prostitution umschrieben sein. Dass bei der Einreise am Flughafen zwei deutsche Staatsangehörige ghanaischer Abstammung als Abholer auf die Klägerin warteten, deutet wiederum eher daraufhin, dass die in Deutschland tätigen Mitarbeiter der Organisation die Klägerin zur Aufnahme in eine der Prostitution dienende Herberge verbringen wollten. Diese Einschätzung teilte jedenfalls auch die Bundespolizei, die sie nach Befragung durch den Hinterausgang aus dem Flughafen führte und mit dem Streifenwagen zu einer Frauennotunterkunft verbrachten. Hätte es sich um christliche Brüder des angeblichen Retters aus … gehandelt, wäre die Klägerin sicher nicht mit einer entsprechenden Vorgehensweise einverstanden gewesen. Und schließlich kann auch die Zurücklassung ihrer zwei und zehn Jahre alten Kinder im Heimatland als konkreter Anhaltspunkt für eine Situation gesehen werden, die der Annahme der Freiwilligkeit ihrer Ausreise und beabsichtigten Aufnahme der Prostitution entgegensteht. Sie hat hierzu angegeben, die Kinder bei einer (ebenfalls christlichen?) Schwester zurückgelassen zu haben. All diese Indizien und Anhaltspunkte fügen sich nahtlos in das gerichtsbekannte Geschäftsmodell der Zwangsprostitution, wie sie in § 232a StGB beschrieben ist, ohne dass der Gesetzgeber in § 25 Abs. 4a AufenthG auch auf dieses gegenüber dem Menschenhandel nach § 232 StGB speziellere Delikt Bezug genommen hätte, und auch die Tatbestandsmerkmale des § 232 StGB erfüllen kann. Auch in der Gesamtschau muss daher festgestellt werden, dass konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Klägerin Opfer der Straftat Menschenhandel wurde. Dem steht nicht entgegen, dass sie sich hierauf nicht beruft und im Klagevorbringen an ihrem Vortrag im Verwaltungsverfahren festhält. Denn zum einen hat der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 59 Abs. 7 AufenthG in Kenntnis der regelmäßig bestehenden Zwangslage von Opfern der genannten Straftaten ein Instrumentarium geschaffen, es den Betroffenen zu ermöglichen, in Ruhe und in geschütztem Raum zu erwägen, ob ein Ausbruch aus der Zwangslage unter Berücksichtigung eines Risikos für die eigene Sicherheit und gegebenenfalls derer von Familienangehörigen – wie hier der Kinder – mit der eigenen Aussagebereitschaft in einem Strafverfahren gangbar ist. Zum Anderen verlangt das Gesetz auch nicht eine – systemfremde – Feststellung solcher Straftaten durch die Verwaltungsgerichte oder ein bereits – gegebenenfalls auf die eigene Anzeige des Ausländers – eingeleitetes Strafverfahren. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut und dem beschriebenen Sinn und Zweck der Norm reichen insoweit "konkrete Anhaltspunkte" aus, die hier objektiv vorliegen.

Klar ist allerdings auch, dass eine Aussagebereitschaft der von den genannten Straftaten Betroffenen wohl nur erreicht werden kann, wenn gemäß § 59 Abs. 7 Satz 4 AufenthG die Behörde oder eine durch sie beauftragte Stelle über die geltenden Regelungen, Programme und Maßnahmen unterrichtet und Hilfsmöglichkeiten aufzeigt. Dies wird das Bundesamt auch in diesem Fall umzusetzen haben.

Diese konkreten Hinweise waren dem Bundesamt bei seiner Entscheidung bekannt und liegen – worauf es entscheidungserheblich ankommt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) – auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts vor. Sie sind auch nicht durch das Festhalten der Klägerin an ihrem Vorbringen im Verwaltungsverfahren widerlegt. Den dieses Vorbringen ist unsubstatiiert und widersprüchlich und damit unglaubhaft (siehe hierzu im Folgenden II.) [...]