OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 07.09.2017 - 13 ME 157/17 - asyl.net: M25760
https://www.asyl.net/rsdb/M25760
Leitsatz:

1. Wurden zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote bereits im Asylverfahren durch das Bundesamt geprüft und verneint, ist es auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR (Paposhvili v. Belgien, asyl.net: M24587) nicht erforderlich, dass die Ausländerbehörde im Vorfeld der Abschiebung schwer erkrankter Personen eine individuelle Zusicherung des Zielstaats im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer adäquaten medizinischen Behandlung einholt (entgegen VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 22.02.2017 - 11 S 447/17 - asyl.net: M24782).

2. Die Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen oder Nichtvorliegen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist für die Ausländerbehörde bindend und kann nur durch eine erneute Prüfung im Rahmen eines Folgeantragsverfahrens (ggf. beschränkt auf die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote) überwunden werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, sachliche Zuständigkeit, Bindungswirkung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Ausländerbehörde, Garantieerklärung, individuelle Zusicherung,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

5 Das amtsärztliche Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K. vom 30. August 2017 geht nach eigener Exploration des Antragstellers zu 1. und Würdigung der vorhandenen Vorbefunde davon aus, dass beim Antragsteller zu 1. seit ca. 20 Jahren eine schwere psychische Störung, am ehesten eine Störung aus dem schizophrenen Formenkreis, besteht. Eine Verstärkung der Symptomatik im Rahmen von Flucht, Asylverfahren und drohender Abschiebung erscheine plausibel. Hinweise, die die Verdachtsdiagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erhärteten, lägen nicht vor. Ausgehend von der einer medikamentösen Behandlung offenbar nur schwer zugänglichen schizophrenen Grunderkrankung, sei aus ärztlicher Sicht zu fordern, dass die weitere psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung des Antragstellers zu 1. im Heimatland sichergestellt werde. Gleiches gelte für die Fortführung einer adäquaten antipsychotischen Medikation. Aufgrund der Gefahr einer psychischen Dekompensation durch die Belastungen der Abschiebung solle eine Reise nur unter Arztbegleitung stattfinden. Die Übergabe in fachlich qualifizierte Weiterbehandlung müsse sichergestellt werden.

6 Hiernach ist eine Reisefähigkeit des Antragstellers zu 1. gegeben, wenn die amtsärztlich geforderten Vorkehrungen getroffen werden. Der Senat hat keine Zweifel, dass der Antragsgegner diese Vorkehrungen treffen wird. Er hat eine Abschiebung des Antragstellers zu 1. unter ärztlicher Begleitung zugesagt. Darüber hinaus werde bei einer Abschiebung die geforderte Sicherstellung einer Weiterbehandlung vor Ort gewährleistet. Dabei hat der Antragsgegner durch seinen E-Mail-Verkehr vom 5./6. September 2017 mit dem Auswärtigen Amt hinreichend dokumentiert, dass die Weiterbehandlung des Antragstellers zu 1. durch den Kooperationsarzt der Botschaft in Tirana sichergestellt werden kann und wird.

7 2. Entgegen der Beschwerde steht einer Abschiebung der Antragsteller ferner kein darüber hinausgehendes (vorübergehendes) inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis unmittelbar aus Art. 3 EMRK (Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung) entgegen.

8 Die Antragsteller haben sich zur Begründung eines solchen rechtlichen Abschiebungshindernisses - wenn auch unter fehlerhafter Bezeichnung - auf das Urteil des EGMR (Große Kammer) vom 13. Dezember 2016 - No. 41738/10 -, Paposhvili v. Belgien, juris Rn. 183, 191, bezogen, das sich im Wesentlichen mit krankheitsbedingten Gefahren wegen der Verhältnisse im dortigen Zielstaat der Abschiebung (Georgien) befasst hat. Allein daraus, dass der EGMR in dieser Entscheidung (a.a.O., Rn. 191) im Interesse der Vermeidung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Einholung individueller und ausreichender Zusicherungen des Zielstaats durch den abschiebenden Staat im Hinblick auf die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer adäquaten medizinischen Behandlung bei schwer erkrankten Personen vor Übergabe des Abzuschiebenden an die Behörden des Zielstaats gefordert und als eine "Vorbedingung einer Abschiebung" ("precondition for removal") bezeichnet hat, folgt nach Ansicht des Senats noch nicht, dass eine derartige Einholung von Zusicherungen - wenn eine Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote bereits in einem Asylverfahren vor dem Bundesamt stattgefunden hat und solche wegen der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der erforderlichen medizinischen Behandlung im Zielstaat verneint worden sind - nochmals und ggf. aktualisiert durch die Ausländerbehörde geschehen müsste (so aber wohl VGH Baden-Württemberg, Beschl v. 22.2.2017 - 11 S 447/17 -, juris Rn. 5; vgl. zum Ganzen: Senatsbeschl. v. 7.6.2017 - 13 ME 107/17 -, juris Rn. 12 ff.). Der Verweis der Antragsteller auf eine darauf hinauslaufende Aufklärungsverfügung aus einem Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Hamburg vom 30. März 2017 - 15 E 3263/17 - (Bl. 84 der GA) ist im vorliegenden Verfahren mithin unerheblich. Der Vorgabe an die Konventionsstaaten aus der o.g. Entscheidung des EGMR vom 13. Dezember 2016 (a.a.O., Rn. 185), ein angemessenes Verfahren vorzusehen, das die Berücksichtigung der sich aus Art. 3 EMRK wegen der Verhältnisse im Zielstaat ergebenden Anforderungen ermöglicht, wird durch die Überprüfungspflichten des Bundesamtes im Rahmen des Asylverfahrens und durch die Möglichkeit des Abzuschiebenden, etwaige Veränderungen der Sachlage gegenüber dem Bundesamt in einem weiteren Verfahren geltend zu machen, hinreichend Rechnung getragen. Eine erneute Prüfung derselben Fragestellung durch die Ausländerbehörde wäre systemwidrig und führte zu auch aus Rechtsschutzgründen nicht gebotenen Doppelprüfungen (vgl. Senatsbeschl. v. 7.6.2017, a.a.O.).

9 Das Bundesamt hat im Asylverfahren der Antragsteller mit Ziffer 4. des rechtskräftig bestätigten Bescheides vom 14. 2015 (vgl. BeiA 001, Bl. 435 ff.) das Bestehen zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote aus Art. 3 EMRK i.V.m. § 60 Abs. 5 AufenthG und aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint; und zwar nicht etwa erst wegen einer angenommenen Verfügbarkeit und Zugänglichkeit medizinischer Behandlung im Zielstaat. Vielmehr hat es bereits dem Grunde nach keinerlei Anhaltspunkte für die Feststellung derartiger Abschiebungsverbote aus individuellen Gründen gesehen (vgl. S. 6 ff. des Bescheides), nachdem der Antragsteller zu 1. in seinem Asylverfahren zu den nunmehr geltend gemachten psychischen Problemen keine Angaben gemacht hat, obwohl er hierzu bei seiner Anhörung vom 28. März 2013 (vgl. BA001, Bl. 445 ff.) beim Bundesamt Gelegenheit hatte und er dazu nach § 25 Abs. 2 AsylG auch verpflichtet war. Das nachfolgende, rechtskräftig gewordene Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 18. April 2017 - 4 A 1985/15 - mit dem die gegen den Bescheid des Bundeamtes vom 14. 2015 erhobene Klage abgewiesen worden ist, bestätigt jedenfalls die Möglichkeit der medizinischen Versorgung der nunmehr vorgetragenen psychischen Erkrankung des Antragstellers zu 1. in Albanien. Für eine von den Antragstellern zudem nicht näher spezifizierte "Vorwirkung" des Art. 3 EMRK ist damit kein Raum.

10 An die rechtskräftig bestätigte negative Feststellung des Bundesamts zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist der Antragsgegner vielmehr gemäß den §§ 42 Satz 1, 24 Abs. 2, 13 Abs. 2, 5 Abs. 1 AsylG gebunden. Diese Wirkung könnte nur im Wege eines Folgeantrags nach § 71 Abs. 1 AsylG oder eines auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich nationalrechtlicher zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten sog. isolierten Folgeschutzgesuchs beim Bundesamt (§ 51 Abs. 1 bis 3 oder Abs. 5 VwVfG) überwunden werden (vgl. zuletzt Senatsbeschl. v. 7.6.2017, a.a.O.). [...]