VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.11.2017 - A 11 S 2526/17 - asyl.net: M25747
https://www.asyl.net/rsdb/M25747
Leitsatz:

1. Zur Bedeutung des Konzepts der Glaubwürdigkeit des Klägers im Asylprozess.

2. Ist ein Urteil bereits verkündet worden und hat das Gericht dabei von seinem Ermessen Gebrauch gemacht, Entscheidungsgründe mitzuteilen, liegen aber die schriftlichen Urteilsgründe noch nicht vor, so gibt es zu diesem Zeitpunkt weder maßgebliche Rechtssätze noch verallgemeinerungsfähige Tatsachenfeststellungen, von denen im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG [Berufungszulassung bei Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung] abgewichen werden könnte.

3. Nimmt ein Beteiligter nicht alle ihm zumutbaren Möglichkeiten, sich zu äußern wahr, so ist er in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs auch nicht verletzt. Zu diesen zumutbaren Möglichkeiten gehört in Fällen, bei denen kurzfristig neue Dokumente zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden, dass eine hinreichende Unterbrechung oder Vertagung der mündlichen Verhandlung oder die Einräumung einer Schriftsatzfrist beantragt wird.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylverfahren, rechtliches Gehör, Glaubwürdigkeit, Berufungszulassung, Glaubhaftigkeit, Divergenzrüge,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, AsylG § 78 Abs. 4 Satz 4, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 5, RL 2013/32/EU Art. 10 Abs. 3, GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 138 Nr. 3
Auszüge:

[...]

Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der Frage danach, ob eine Einlassung als wahr zu bewerten ist, die Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage zentral ist, während ein Konzept der Glaubwürdigkeit einer Person im Sinne eines lauteren oder zweifelhaften Charakters keine eindeutigen Rückschlüsse auf eine Aussage im Einzelfall zulässt (Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, Rn. 220). Ganz in diesem Sinne hat das Verwaltungsgericht auch die einzelnen Aussagen des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie gegenüber dem Gericht selbst gewertet. [...]

Da es nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bereits an kohärenten, also insbesondere in sich schlüssigen, Aussagen des Klägers fehlt, kommt es für die Anwendung von Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU schon auf die generelle Glaubwürdigkeit im Sinne dieser Vorschrift nicht an (siehe zu den Fragen der Auslegung von Art. 4 Abs. 5 Buchst. e) RL 2011/95/EU etwa: UNHCR, Beyond Proof, Credibility Assessment in EU Asylum Systems, 2013 S. 198; zur Frage, ob der generellen Glaubwürdigkeit eine eigenständige Bedeutung zukommt, siehe auch EGMR; Urteil vom 06.09.2007 - 22556/05 - M / Schweden -, Rn. 60).

c) Die Einwände, die der Kläger gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts erhebt und die sich insbesondere auf die Einlassungen hinsichtlich der Ladung eines Lkw beziehen, namentlich, ob er im Verwaltungsverfahren von Metallteilen gesprochen hatte oder ob bei der Anhörung durch das Bundesamt eine fehlerhafte Übertragung aus der Sprache Dari in das Deutsche erfolgte, führen nicht dazu, dass der Senat von anderen Feststellungen als denjenigen, die das Verwaltungsgericht getroffen hat, ausgehen darf. Denn der Kläger hat insoweit keine Verfahrensrügen erhoben. Soweit mit dem Zulassungsvorbringen insoweit ein Fehler bei der Überzeugungsbildung vorgetragen wird, so kann ein behaupteter Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zum einen nur auf einen materiellrechtlichen Mangel des Urteils und nicht auf einen Verfahrensmangel führen (BVerwG, Beschl. v. 09.10.2017 - 8 B 1.17 -, juris Rn. 9). Anderes kann nur gelten und mithin ein Verfahrensfehler vorliegen, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet (BVerwG, Beschluss vom 02.09.2010 - 1 B 18.10 -, AuAS 2010, 254 Rn. 4 m.w.N.). Weder ist dieser Verfahrensfehler aber im Asylprozess rügbar, denn er ist nicht im Katalog des § 138 VwGO, auf den § 78 Abs. 3 Nr. 3 VwGO verweist, enthalten, noch liegt ein solcher Fehler hier vor.

2. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Abweichung von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs liegt nicht vor. [...]

Ist ein Urteil bereits verkündet worden und hat das Gericht dabei von seinem Ermessen Gebrauch gemacht, Entscheidungsgründe mitzuteilen (vgl. § 173 Satz 1 VwGO, § 311 Abs. 3 ZPO), liegen aber die schriftlichen Urteilsgründe noch nicht vor, so gibt es zu diesem Zeitpunkt weder maßgebliche Rechtssätze noch verallgemeinerungsfähige Tatsachenfeststellungen, von denen abgewichen werden könnte. Denn rechtserheblich sind die schriftlichen und nicht die mündlich mitgeteilten Urteilsgründe (VGH Bad.-Württ, Beschluss vom 02.11.1998 - A 12 S 644/98 -, NVwZ 1999, 669; Stuhlfauth, in: Bader u.a. VwGO, 6. Aufl. 2014 § 124 Rn. 53). [...]

3. Die geltend gemachten Verfahrensfehler führen ebenfalls nicht zur Berufungszulassung. [...]

b) Soweit der Kläger weiter geltend macht, dass die fehlende Auseinandersetzung mit den Einwendungen, die er in seinem im Termin zur mündlichen Verhandlung überreichten Schriftsatz gegen die Verwendung der Lageeinschätzung formuliert hat, führt dies ebenfalls auf keinen Gehörsverstoß.

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht dieser Verpflichtung nachgekommen ist (BVerfG, Beschluss vom 01.02.1978 - 1 BvR 426/77 -, BVerfGE 47, 182; vom 25.03.1992 - 1 BvR 1430/88 -, BVerfGE 85, 386; vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133; Kammerbeschluss vom 17.04.2012 - 1 BvR 3071/10 -, juris; vom 15.05.2012 - 1 BvR 1999/09 ,- juris). Es ist nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen des Klägers in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Nur die wesentlichen der Rechtsverteidigung und -verfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Daher kann aus der fehlenden Erörterung von Teilen des Vorbringens nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, diese seien gar nicht erwogen worden. Eine derartige Annahme ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen wurden, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.1988 - 1 BvR 818/88 - BVerfGE 79, 51).

Davon ausgehend folgt aus der bloßen fehlenden Auseinandersetzung mit rechtlichen Argumenten gegen die Verwendung der Lageeinschätzung kein Gehörsverstoß.

bb) Auch inhaltlich tragen die Argumente, die der Kläger gegen die Verwendung der Lagebeurteilung anführt, nicht.

Er trägt vor, da sie als "Verschlusssache - Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft sei, widerspreche die Verwendung in einem öffentlichen Gerichtsverfahren. Der auf Auskünften und Berichten des Auswärtigen Amtes angebrachte Vermerk "VS - Nur für den Dienstgebrauch" hindert jedoch deren Verwertbarkeit nach Einführung in das Verfahren nicht. Der Vermerk unterwirft die betroffenen Unterlagen nicht der Geheimhaltungspflicht entgegen den prozessualen Regeln und entzieht sie insbesondere nicht dem rechtlichen Gehör und der Erörterung der Sache. Sichergestellt werden soll durch den Vermerk die Verwendung der Unterlagen allein zu dienstlichen Zwecken. Die nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung stattfindende Berücksichtigung als Erkenntnisgrundlage im Asylverfahren ist aber gerade eine Form des dienstlichen Gebrauchs (OVG NRW, Urteil vom 03.03.1999 - 20 A 2612/97.A -, juris).

Fehl geht die Rechtsauffassung des Klägers, Lageberichte könnten deswegen nicht verwendet werden, weil sie vom Auswärtigen Amt und damit von der Beklagten erstellt würden und sie letztlich Parteivortrag vom Hörensagen seien. Vielmehr sind die Verwaltungsgerichte grundsätzlich von Amts wegen gehalten, sich von Amts wegen zu vergewissern, ob ein neuer Lagebericht zur Verfügung steht und relevante Änderungen der Verhältnisse in dem betreffenden Land beschreibt (BVerwG, Beschluss vom 09.05.2003 - 1 B 217.02 -, InfAuslR 2003, 359). Ob unter der Geltung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. b) RL 2013/32/EU, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass zum Zwecke der angemessenen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz durch die Asylbehörde genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen wie etwa EASO und UNHCR sowie einschlägigen internationalen Menschenrechtsorganisationen eingeholt werden, die Aufschluss über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten, zur Verfügung stehen, die Aussage, dass die Lageberichte des Auswärtigen Amtes von zentraler Bedeutung sind (BVerwG, Beschluss vom 17.12.2007 - 10 B 92.07 -, juris Rn. 1), weiterhin zutrifft, bedarf dabei keiner Entscheidung. [...]