OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Urteil vom 23.11.2017 - 2 A 241/17 - asyl.net: M25716
https://www.asyl.net/rsdb/M25716
Leitsatz:

Dem Kläger, einem staatenlosen Palästinenser aus Syrien, der ursprünglich unter dem Schutz der UNRWA stand, ist eo ipso die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Palästinenser, UNRWA, Flüchtlingseigenschaft, Schutz, Ausschlussgrund, Upgrade-Klage
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Es ist daher davon auszugehen, dass sich der Schutz der UNRWA auch auf den Kläger erstreckt hatte.

Der Kläger unterfällt des Weiteren nicht dem Ausschlussgrund der fehlenden Schutzbedürftigkeit des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG, weil für ihn der Schutz durch die UNRWA weggefallen ist. Wie sich aus § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG ergibt, sind Abs. 1 und 2 wieder anwendbar, wenn Schutz oder Beistand von der UNRWA nicht länger gewährt wird. Zwar geht die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon aus, dass nicht bereits vorübergehende Vorkommnisse einen Wegfall der Betreuung durch die UNRWA bewirkten, sondern nur solche, denen Dauerhaftigkeit zukomme (BVerwG, Urteil vom 21.1.1992 - 1 C 21.87 -, BVerwGE 89, 296; juris); ein tatsächlicher Wegfall des Schutzes liege insbesondere nicht vor, wenn die UNRWA im Mandatsgebiet durch eine bürgerkriegsartige Situation an der erforderlichen Schutzgewährung gehindert werde (BVerwG, Urteil vom 4.6.1991 - 1 C 42188 -, BVerwGE 88, 254). Diese höchstrichterliche Rechtsprechung ist indes angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 19.12.2012, a.a.O.). als überholt anzusehen. Auch nach dieser ist freilich die bloße Abwesenheit der Betreffenden vom Gebiet der Schutzgewährung oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, regelmäßig unzureichend, um die Annahme zu rechtfertigen, der Schutz sei weggefallen. Vielmehr kommt es allein auf die fehlende Freiwilligkeit des Ausreiseentschlusses aufgrund vom Willen des Betroffenen unabhängiger Zwänge an (ebenso im Übrigen die Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Drs. 18/8201 vom 20.4.2016, a.a.O., Seite 8 (Frage 20)), weil dieser sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet" und es der UNRWA unmöglich ist, ihm im Mandatsgebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der der UNRWA übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Für die Beurteilung im Einzelnen können danach die Maßstäbe des Art. 4 Abs. 3 der Anerkennungsrichtlinie ( Richtlinie 20111951EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes) sinngemäß herangezogen werden.

Dies zugrunde gelegt steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Schutz des Klägers durch die UNRWA in Syrien aus Umständen weggefallen ist, die von seinem Willen unabhängig waren. Der Kläger hat, wie dargelegt, im Berufungsverfahren in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass der Wegzug seiner Familie aus dem Palästinenserlager Deraa, dem sie ausweislich der UNRWA-Registrierung zugewiesen waren, wegen der Kampfhandlungen und der nachfolgenden Zerstörung des Lagers erfolgt ist; im Zuge der Kampfhandlungen seien sowohl das Lager als auch ihr Haus und ihr Laden zerstört worden. Aufgrund der Angaben des Klägers, die, wie ausgeführt, mit den tatsächlichen Gegebenheiten in dem Palästinenserlager Deraa in Einklang stehen, ist davon auszugehen, dass infolge der Zerstörung des Lagers durch das Bürgerkriegsgeschehen in Syrien der Schutz und Beistand des Klägers seitens der UNRWA weggefallen ist und er deshalb gezwungen war, Syrien zu verlassen. Dies wird nicht zuletzt dadurch indiziert, dass dem Kläger bereits durch den streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten wegen der Bürgerkriegssituation in Syrien der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.6.2017, a.a.O.; auch die Bundesregierung ist im Übrigen der Auffassung, dass dann, wenn im Einsatzgebiet der UNRWA Krieg herrscht, in der Regel davon ausgegangen werden muss, dass dort der Schutz nicht länger besteht, vgl. die Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Drs. 18/8201 vom 20.4.2016, a.a.O., Seite 8 (Frage 21)). [...]

Weiterhin stand dem Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien keine Möglichkeit offen, in anderen Teilen des Mandatsgebietes den Schutz der UNRWA in Anspruch zu nehmen. Entgegen dem dies in Frage stellenden Vortrag der Beklagten in der mündlichen Verhandlung muss vielmehr gesehen werden, dass nach im Kern übereinstimmender Auskunftslage sowohl Jordanien als auch der Libanon - als zum Mandatsgebiet der UNRWA zählende Nachbarstaaten Syriens - ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien geschlossen haben (und zwar vorliegend bereits vor der im August 2015 bzw. September erfolgten Ausreise des Klägers aus Syrien) (17 vgl. dazu etwa die Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Drs. 1818201 vom 20.4.2016, zur Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten und der aus Syrien geflüchteten Palästinenserinnen und Palästinenser, Seite 2 (Vorbemerkung der Fragesteller), wonach palästinensische Flüchtlinge seit Mitte 2012 von jordanischen Sicherheitskräften an der Grenze abgewiesen werden und seit Januar 2013 ein offizielles jordanisches Einreiseverbot besteht sowie unzählige Palästinenserinnen und Palästinenser nach Syrien abgeschoben bzw. in einem Lager unter menschenunwürdigen Bedingungen eingesperrt worden sein sollen; vgl. auch BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 35, wonach Jordanien und Libanon ihre Grenzen für palästinensische Flüchtlinge aus Syrien im Jahr 2015 geschlossen haben; auch nach Angaben der UNRWA (www.unrwa.org/syria-crisis) ist die Grenzschließung für palästinensische Flüchtlinge im Falle von Jordanien bereits frühzeitig (early In the conflict) und im Falle des Libanon im Mai 2015 erfolgt; ebenso spricht der Fact Finding Mission Report Syrien der BFA, August 2017, davon, dass Palästinensern die Einreise in den Libanon in der Praxis willkürlich verweigert wird (dort Seite 32); im Übrigen sind auch in der Türkei (die nicht zum Mandatsgebiet der UNRWA zählt) Einreisebeschränkungen für Palästinenser in Kraft (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 32) bzw. hat die Türkei die Grenzen zu Syrien mittlerweile de facto geschlossen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 36); die Grenze zwischen Syrien und dem Irak (der gleichfalls nicht zum Mandatsgebiet der UNRWA zählt) soll ebenfalls für Flüchtlinge geschlossen sein (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 36); ferner ist es für (syrische) Palästinenser schwierig bis unmöglich, in Nachbarländern Syriens einen legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen oder Dokumente zu erhalten und sind sie dort einem erhöhten Ausbeutungsrisiko ausgesetzt (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seiten 32 f.)).

Es kann auch nicht begründet davon ausgegangen werden, dass der Kläger in einem anderen Flüchtlingslager der UNRWA innerhalb Syriens deren Schutz hätte in Anspruch nehmen können. Dem stand und steht nicht nur die dort weiterhin herrschende Bürgerkriegssituation sowie die bereits angeführte besondere Betroffenheit palästinensischer Flüchtlinge von dieser entgegen, die nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass ein Großteil der Palästinenser im Laufe des Bürgerkriegs mindestens einmal innerhalb Syriens vertrieben wurde (nach Angaben des BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Osterreich) handelt es sich um 65 % (Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 30) bzw. um mehr als zwei Drittel (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 37), nach Angaben der UNRWA (Syria Crisis: About 400,000 Palestine Refugees from Syria (PRS) have been displaced, www.unrwa.org/syria-crisis) sollen sogar ca. 400.000 von insgesamt ca. 438.000 (wohl: registrierten) palästinensischen Flüchtlingen in Syrien betroffen sein)-Darüber hinaus wurden nämlich viele UNRWA-Einrichtungen in Syrien zerstört oder sind diese für die UNRWA nicht zugänglich, wie z.B. 50 % der Schulen (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 29); zu zahlreichen Flüchtlingslagern - einschließlich Yarmouk, Sbeineh, Khan Eshieh, Ein EI Tal, Dara'a und Husseiniyeh - besteht nach Angaben der UNRWA keine gesicherte Zugangsmöglichkeit (vgl. die amtliche Stellungnahme der UNRWA vom 14.10.2013: UNRWA deplores the violence in Dera'a Refugee Camp (www.unrwa.orglnewsroomlofficial-statements)). Auch andere Quellen berichten, dass von den zwölf palästinensischen Flüchtlingslagern in Syrien fünf entweder zerstört wurden oder für die UNRWA unzugänglich sind und in anderen Palästinenser eingeschlossen sind, wodurch ihr Zugang zu humanitärer Hilfe extrem eingeschränkt ist (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 31; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Gesamtaktualisierung 5.1.2017, Seite 37). Hinzu kommt, dass es nach der Auskunftslage für Palästinenser, z.B. mangels gültiger syrischer Dokumente, schwierig ist, sich durch Checkpoints zu bewegen und ihre Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens wegen der Registrierungspflicht und der Genehmigungspflicht für einen Wohnortwechsel reduziert ist (vgl. BFA, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017, Seite 31). Überdies war der Kläger vorliegend im Zeitpunkt seiner Ausreise aus Syrien noch minderjährig, so dass nicht ersichtlich ist, wie er ohne seine Eltern offiziellen Zugang zu einem Flüchtlingslager der UNRWA und dortigen Unterstützungsleistungen hätte erlangen können, und zwar sowohl in Syrien als auch im übrigen Mandatsgebiet der UNRWA.

Da schließlich die Lage der Palästinenser bis heute nicht endgültig geklärt wurde (vgl. die Resolution Nr. 66172 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 9.12.2011, Ziff. 1 und 3), ist der Kläger unmittelbar Flüchtling im Sinne der Konvention (und damit im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 AsylG), was die Beklagte förmlich festzustellen haben wird. [...]