VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 19.10.2017 - 9 K 6090/15 - asyl.net: M25647
https://www.asyl.net/rsdb/M25647
Leitsatz:

1. Ein durch einen anderen Mitgliedstaat erteiltes Schengen-Visum stellt einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG dar.

2. § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG erfasst auch Schengen-Visa, die durch einen anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Schengen-Visum, Fiktionswirkung, Verlängerungsantrag, Aufenthaltstitel, EU-Mitgliedstaat, Visum, Besuchsvisum, Antrag, Aufenthaltserlaubnis,
Normen: AufenthG § 81
Auszüge:

[...]

Die Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 S. 1 AufenthG setzt voraus, dass sich ein Ausländer im Zeitpunkt seines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne (bereits) einen Aufenthaltstitel zu besitzen.

a) Von der Systematik der Norm des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG her sind danach nur die Ausländer privilegiert, bei denen im Zeitpunkt der Einreise - von Rechts wegen - auf eine vorgeschaltete Prüfung verzichtet werden konnte, also die Tatbestände des Kapitels 2 Abschnitt 2 der AufenthV (sog. "Anhang-II-Staater"; Besucher mit gültigem nationalen Aufenthaltstitel eines anderen Schengen-Staates; etc.) und die aus dieser Rechtsposition heraus einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellen.

Demgegenüber waren die Fälle, in denen eine Einreise grundsätzlich nur mit Visum, also mit einer vorgeschalteten Prüfung rechtmäßig sein konnte, von jeher allein in Abs. 4 der Norm verortet und dort zusammengefasst mit denjenigen Fällen, in denen bereits in der Vergangenheit durch Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels eine Sachprüfung stattgefunden hatte. In der Konsequenz dessen löste bei diesem Personenkreis ein Antrag auf Aufenthaltstitel die Fortgeltungswirkung des bisherigen Titels aus, wenn ein solcher im Zeitpunkt der Antragstellung vorhanden war. Ein generell visumpflichtiger Ausländer konnte daher die Fortgeltungswirkung seines erlaubten Aufenthaltes im Falle der Einreise nur erlangen, wenn er bei dieser Einreise eine vorgeschaltete Prüfung durchlaufen und ein Visum - gleich welcher Art - erhalten hatte. Dies war in der Vergangenheit unstreitig (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.07.2014, – 11 S 1009/14 –, juris).

Allein der Umstand, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern v. 29.08.2013 (BGBl. I S. 3484) mit Wirkung zum 06.09.2013 in § 81 Abs. 4 AufenthG den neuen Satz 2 eingefügt hat, und damit Schengen- und Flughafentransitvisa entsprechend § 6 Abs. 1 AufenthG von dieser Möglichkeit der Fortgeltungswirkung nun ausgeschlossen hat, ermöglicht es nicht, diese in Abweichung von der zuvor bestehenden Systematik nunmehr in Abs. 3 der Norm zu verorten.

b) Ungeachtet dessen unterfällt der Kläger aber auch vom Wortlaut her nicht der Regelung des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG. Denn er besaß im Zeitpunkt der Antragstellung einen Aufenthaltstitel (vgl. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG). Er befand sich zum Zeitpunkt, als er am 26.11.2015 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis beantragte, im Besitz eines Schengen-Visums der spanischen Botschaft nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG.

Auch das durch einen anderen Mitgliedstaat erteilte Schengen-Visum stellt einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG dar, so dass sich in dieser Konstellation die Fiktionswirkung allenfalls nach § 81 Abs. 4 und nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG richten könnte (so auch VGH Mannheim, Beschluss vom 21.07.2014, – 11 S 1009/14 –, Rn. 3; VGH München, Beschluss vom 21.02.2013, – 10 CS 12.2679 –, BeckRS 2013, 48084; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2014, – OVG 3 S 4.14 –, Rn. 5, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 12.11.2013, – 13 ME 190/13 –, Rn. 1, 4 ff.). Beide Regelungen sind nach dem Wortlaut und der Systematik ausschließlich alternativ anwendbar, da sie auf das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen eines Aufenthaltstitels abstellen (vgl. oben).

Zu § 81 Abs. 4 AufenthG alter Fassung war weitgehend anerkannt, dass vom Begriff Aufenthaltstitel auch durch einen anderen Mitgliedstaat erteilte Schengen-Visa erfasst sein sollten (VGH Mannheim, Beschluss vom 21.07.2014, – 11 S 1009/14 –, Rn. 2, 3; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 03.04.2014, – OVG 3 S 4.14 –, Rn. 5, juris; VGH München, Beschluss vom 21.02.2013, – 10 CS 12.2679 –, BeckRS 2013, 48084; OVG Münster, Beschluss vom 16.01.2008, – 19 B 1624/07 –, Rn. 2, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 31.10.2011, – 11 ME 315/11 –, Rn. 2, 5, juris). Hieran hat sich auch durch die Einführung des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG nichts geändert. Dem Begriff des Aufenthaltstitels in § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG kann nach der Gesetzesänderung keine andere Bedeutung als bislang zugemessen werden.

Der Gesetzgeber hat sich mit der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG klar gegen eine Fiktionswirkung von Schengen-Visa ausgesprochen. Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, die Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG derart auszulegen, dass sie allein auf durch deutsche Behörden erteilte Schengen-Visa beschränkt sein soll, mit der Folge, dass durch nationale Behörden erteilte Schengen-Visa keinerlei Fiktionswirkung auslösen können, während Schengen-Visa, die durch die Behörden anderer Mitgliedstaaten erteilt würden, zumindest die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG auslösen könnten. Weder besteht für eine derartige Differenzierung ein sachlicher Grund, noch ist die Absicht einer solchen Differenzierung durch den nationalen Gesetzgeber ersichtlich. Auch ist eine solche Differenzierung nicht aufgrund europarechtlicher Vorgaben gerechtfertigt. Es existiert keine europarechtliche Vorgabe, Schengen-Visa anderer Mitgliedstaaten nach ihrem Ablauf eine weitergehende Rechtswirkung zuzubilligen. Zudem steht bereits der durch die Vorläufigkeit und die eingeschränkte Zweckrichtung geprägte Status eines Schengen-Visums einer fiktiven Fortwirkung entgegen (Hailbronner, AuslR, § 81, Rn. 34). Das Schengen-Visum beinhaltet kein allgemeines Aufenthaltsrecht sondern erlaubt prinzipiell nur einen Aufenthalt zu vorübergehenden Zwecken (aaO).

Diese Ungleichbehandlung lässt sich auch nicht durch die analoge Anwendung des § 81 Abs. 3 AufenthG auf durch deutsche Behörden erteilte Schengen-Visa verhindern. Dies würde dem klaren Wortlaut des § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG, "ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen", klar widersprechen. Bei durch deutsche Behörden ausgestellten Schengen-Visa handelt es sich jedenfalls eindeutig um Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG. Der Gesetzgeber hat mit § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG n.F. zudem gerade bezweckt, die Fiktionswirkung von Visa nach § 6 Abs. 1 AufenthG auszuschließen (vgl. BT-Drs. 17/13022, S. 30; 17/13536, S. 15; vgl. auch VGH Mannheim, Beschluss vom 21.07.2014, – 11 S 1009/14 –, Rn. 3; OVG Magdeburg, Beschluss vom 11.08.2015, – 2 M 91/15 –, Rn. 2). Nach der Gesetzesbegründung sei ansonsten die "einzig sachlich richtige" Beschränkung der Fortgeltungsfiktion auf nationale Visa nach § 6 Abs. 3 AufenthG nicht mehr durchsetzbar (BT-Drs. 17/13022, S. 30; 17/13536, S. 15). Diese klare gesetzgeberische Intention würde durch die ersatzweise Anwendung des § 81 Abs. 3 AufenthG konterkariert (vgl. auch VGH München, Beschluss vom 05.09.2014, – M 10 E 14.2899 –, BeckRS 2015, 47643). § 81 Abs. 3 AufenthG bezieht sich vielmehr nach der Gesetzessystematik auf die Antragstellung durch Ausländer, die zunächst vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit sind (vgl. § 4 Abs. 1 AufenthG) und die Aufenthaltserlaubnis gem. §§ 39, 40 AufenthV nach der Einreise beantragen können (vgl. auch Hailbronner, AuslR, § 81, Rn. 13).

Auch der Verweis des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG auf Visa nach § 6 Abs. 1 AufenthG spricht nicht gegen diese Gesetzesauslegung. Der Verweis auf § 6 Abs. 1 AufenthG ist ausschließlich als Verweis auf die in § 6 Abs. 1 Ziff. 1 und 2 AufenthG aufgeführten Visaarten auszulegen und nicht als Komplettverweis auf § 6 Abs. 1 AufenthG, der der Natur der Sache nach nur die Erteilung der genannten Visa durch deutsche Behörden regeln kann (a.A. Funke-Kaiser, in GK-AufenthG, § 81 Rn. 77). Dies folgt bereits daraus, dass § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG nicht die Erteilung eines Visums, sondern die Wirkungen bereits erteilter Visa regelt. Hierfür spricht ebenfalls der Wortlaut des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG. Der Wortlaut "Visum" nach § 6 Abs. 1 AufenthG verweist gerade auf die in § 6 Abs. 1 aufgeführten Visa und nicht auf den gesamten § 6 Abs. 1 AufenthG.

Auch ist § 4 Abs. S. 2 AufenthG nicht zu entnehmen, dass durch andere Mitgliedstaaten erteilte Schengen-Visa keine Aufenthaltstitel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes sind. Allgemein spricht nicht nur der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit dafür, Schengen-Visa anderer Staaten als von dem Begriff des Aufenthaltstitels des § 4 Abs. 1 S. 1 AufenthG umfasst zu sehen (so auch VGH München, Beschluss vom 21.02.2013, – 10 CS 12.2679 –, BeckRS 2013, 48084, Rn. 8 ff.; Maor, in BeckOK Ausländerrecht, § 4 AufenthG, Rn. 14; Zeitler, in: HTK-AuslR, § 4 AufenthG, zu Abs. 1, 06/2017, Nr. 2; a.A. Funke-Kaiser, in GK-AufenthG, § 81 Rn. 77). Denn die in § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AufenthG unter Verweis auf § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG aufgeführten Schengen-Visa werden ausweislich § 6 Abs. 1 AufenthG nach Maßgabe der VO (EG) Nr. 810/2009 ausgestellt, also nach dem einheitlichen, in allen Schengen-Staaten gleich anwendbaren Regime des Schengen-Rechts. Das AufenthG enthält keine Aussage zu den ausstellenden Behörden und damit auch keine ausdrückliche Beschränkung auf deutsche ausstellende Behörden (VGH München, Beschluss vom 21.02.2013, – 10 CS 12.2679 –, BeckRS 2013, 48084; Maor, in: BeckOK Ausländerrecht, § 4 AufenthG, Rn. 14). Auch bezieht sich § 4 Abs. 1 S. 2 AufenthG auf Visa "im Sinne des § 6 Abs. 1 Nummer 1" und nicht auf den gesamten Abs. 1 des § 6 AufenthG.

Zusätzlich spricht der Wortlaut des § 81 Abs. 4 S. 1 AufenthG ("Aufenthaltstitel") gegen eine einschränkende Auslegung. Nach Art. 2 Nr. 2 lit. a der VO (EG) 810/2009 bezeichnet "Visum" die von einem (egal welchem) Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen und schließt daher eine "Aufenthaltsgenehmigung" für diesen Zeitraum mit ein. § 39 AufenthVO lässt als untergesetzliche Norm weder Schlüsse in die eine noch in die andere Richtung zu (vgl. aber Funke-Kaiser, in GK-AufenthG, § 81 Rn. 77). 29 Aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts und der Sonderregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 AufenthG ist § 81 Abs. 3 S. 1 AufenthG in dieser Konstellation auch nicht analog anwendbar (mit abweichender Begründung so auch VGH München, Beschluss vom 21.02.2013, – 10 CS 12.2679 –, BeckRS 2013, 48084). [...]