VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 04.03.2002 - 12 UE 203/02 - asyl.net: M2546
https://www.asyl.net/rsdb/M2546
Leitsatz:

§ 48 Abs. 1 S. 2 AuslG kann nicht auf Fälle der Regel-Ausweisung übertragen werden; die Ausländerbehörde muss unverzüglich nach Bekanntwerden eines Ausweisungsgrundes entscheiden, ob weitere Sachverhaltsaufklärung betreiben, eine Ausweisungsverfahren einleiten oder von der Ausweisung absehen will; sieht die Ausländerbehörde von der Ausweisung ab, muss sie den Betroffenen informieren und verwarnen; ein Ausweisungsgrund ist verbraucht, wenn die Ausländerbehörde ohne Verwarnung des Betroffenen über lange Zeit (hier: ein Jahr und acht Monate) nichts unternimmt; wird eine Ausweisung auf einen verbrauchten Ausweisungsgrund gestützt, kann eine nach der letzten Behördenentscheidung begangene Straftat nicht bei der Beurteilung der Ausweisung berücksichtigt werden.(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Türken, Ausweisung, Straftäter, Nötigung, Körperverletzung, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Drogendelikte, Freiheitsstrafe, Regelausweisung, Besonderer Ausweisungsschutz, Aufenthaltsberechtigung, Ermessensausweisung, Beschleunigungsgebot, Generalprävention, Spezialprävention, Wiederholungsgefahr, Verbrauch, Ausweisungsgründe, Vertrauensschutz
Normen: AuslG § 47 Abs. 3; AuslG § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Auszüge:

Die Ausländerbehörden haben unverzüglich nach Bekanntwerden eines Ausweisungsgrunds darüber zu entscheiden, ob sie zunächst eine weitere Sachaufklärung betreiben oder ein Ausweisungsverfahren mit der Anhörung des Ausländers einleiten oder aber von einer Ausweisung absehen; im letzteren Falle müssen sie den Ausländer unterrichten und "verwarnen", wenn sie sich die Verwertung des Ausweisungsgrundes bei einer späteren Entscheidung über den Aufenthalt vorbehalten wollen.

Ein Ausweisungsgrund ist "verbraucht", wenn die Ausländerbehörde nach Kenntnisnahme von einem Strafurteil über(...) nichts unternimmt und erst nach Ablauf von mehr als zwei Jahren ein Ausweisungsverfahren einleitet, ohne dass zwischenzeitlich weitere Straftaten oder andere Ausweisungsgründe bekannt geworden sind.

Die Ausländerbehörde hat zwar von der am 5. Juli 1996 rechtskräftig gewordenen Verurteilung vom 27. Juni 1996 bereits am 20. Juni 1996 erfahren, den Kläger aber zu der Absicht der Ausweisung erst am 13. Oktober 1998 erstmalig angehört und die erste Ausweisungsverfügung erst am 15. Dezember 1998 erlassen, also mehr als zwei Jahre nach Bekanntwerden der Straftat und der rechtskräftigen Verurteilung. Über die Ausweisung eines Ausländers ist jedoch unmittelbar nach Bekanntwerden eines Ausweisungsgrundes oder eines entsprechenden Verdachts zu entscheiden. Die Ausländerbehörde muss insoweit von Amts wegen tätig werden, umgehend eine Ausweisung prüfen und ein Ausweisungsverfahren zügig einleiten und durchführen (Nr. 45.0.6.1 Sätze 1 und 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz vom 05.06.2000, GMBl. S. 618; abgedr. bei Renner, Verwaltungsvorschriften zum Staatsangehörigkeits- und zum Ausländerrecht, 2001, S. 53 ff. - AuslG - VwV). Soweit die Ausweisungsvoraussetzungen sowie sonstige erhebliche belastende und entlastende Umstände festgestellt sind, muss die Ausländerbehörde unverzüglich über die Ausweisung entscheiden (Nr. 45.0.6.4.1 Satz 1 AuslG-VwV). Sieht die Ausländerbehörde von einer Ausweisung ab, ist der Ausweisungstatbestand in der Regel verbraucht, es sei denn, der Ausländer wird ausdrücklich auf die möglichen Folgen der künftigen Verwirklichung eines Ausweisungsgrund hingewiesen (vgl. Nr. 45.0.6.7 AuslG-VwV). Angesichts der Wichtigkeit einer unverzüglichen Entscheidung über die Ausweisung auch für die Frage des Strafvollzugs und von Resozialisierungsmaßnahmen sind in einigen Bundesländern (nicht in Hessen) zusätzlich verwaltungsinterne Anweisungen über das Betreiben von Ausweisungsverfahren ergangen (vgl. dazu die Übersicht in ZAR 2002, 79).

Das besondere Beschleunigungserfordernis für Ausweisungsverfahren beruht auf der Erkenntnis, dass eine zuverlässige Gefährdungsprognose (dazu allgemein Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998, Rdnr. 7/458 bis 7/478) desto besser getroffen werden kann, je schneller sie nach der Kenntnisnahme von einer strafgerichtlichen Verurteilung erstellt wird. Ob der weitere Aufenthalt eines straffällig gewordenen Ausländers weiter hingenommen werden kann, ist in erster Linie danach zu beurteilen, ob von ihm künftig Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen (Spezialprävention) und ob eine konsequente Ausweisungspraxis zur Abschreckung anderer Ausländer vor der Begehung ähnlicher Straftaten geeignet und verhältnismäßig ist (Generalprävention). Da die in der Begehung einer Straftat liegende Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nur den Anlass für ein Ausweisungsverfahren bietet und die Ausweisung selbst eine zukunftsgerichtete Prognose unter Berücksichtigung des in den Straftaten zum Ausdruck gelangten Gefährdungspotenzials erfordert, taugt die Bezugnahme auf die begangene Straftat sowohl bei der Spezial- als auch bei der Generalprävention nur dann, wenn aus dem Verhalten des Ausländers vor, während und nach der Straftat brauchbare Schlüsse auf die Wahrscheinlichkeit einer Resozialisierung einerseits oder der Gefahr einer Wiederholung von Straftaten andererseits gezogen werden können. Insbesondere bei Freiheitsstrafen, deren Vollstreckung von Anfang an oder nach Verbüßung eines Teils der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wird, eignet sich die in der Vergangenheit liegende Straffälligkeit als Grundlage für eine Gefahrenprognose grundsätzlich dann nicht mehr, wenn eine längere Zeit verstrichen ist, ohne dass der Ausländer sich weiterer Verfehlungen schuldig gemacht hat.

Eine zögerliche Behandlung von Ausweisungsverfahren erschwert aber nicht nur die notwendige Gefahrenprognose, sondern kann auch dazu führen, dass sich die Ausländerbehörde nach den Grundsätzen von Treu und Glauben und wegen des rechtsstaatlichen Grundsatzes des Vertrauensschutzes nicht mehr auf den Ausweisungsgrund berufen kann und dieser damit "verbraucht" ist. Infolge dessen kann die Ausweisung dann nicht mehr allein auf eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung gestützt werden, wenn die Ausländerbehörde trotz deren Kenntnis eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt oder verlängert hat (Nr. 45.0.4.1.2 Sätze 1 und 2 AuslG VwVO). Außerdem muss ein Ausweisungsgrund auch dann als verbraucht angesehen werden, wenn die Ausländerbehörde nach voller Kenntnisnahme der Verurteilung und deren Grundlagen weder zusätzliche Ermittlungen einleitet und den Ausländer zu einer beabsichtigten Ausweisung anhört noch diesen abmahnt oder verwarnt und sich damit eine spätere Verwertung der Verwirklichung eines Ausweisungsgrunds vorbehält (Renner, a.a.O., Rdnr. 7/1000; GK-AuslR, § 45 AuslG Rdnr. 733 bis 735; jew. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung; Fraenke., Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, 1991, S. 243 f.).

Nach alledem ist zusammenfassend festzustellen, dass die angegriffenen Behördenentscheidungen wegen Verstoßes gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Beschleunigungsgebot, wegen unzureichender Grundlagen für die notwendige Gefahrenprognose und infolge einer Verletzung des Vertrauensschutzes rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen. Der Kläger brauchte unter den geschilderten Umständen nach einem Ablauf von mehr als zwei Jahren nach Kenntnisnahme der Ausländerbehörde von der Verurteilung im Juni 1996 nicht mehr mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen im Hinblick auf die damals abgeurteilten Straftaten zu rechnen, und die Begründungen der Ausweisungsverfügung und des Widerspruchsbescheids leiden an einem wesentlichen Prognosefehler, weil das zwischenzeitliche jahrelange straffreie Verhalten des Klägers nicht berücksichtigt wurde, obwohl dies für die Frage des Fortbestehens einer von ihm ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und für die Annahme einer von der Ausweisung zu erwartenden abschreckenden Wirkung auf andere Ausländer wesentlich war.

Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren auf das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Marburg vom 2. November 2000 hingewiesen hat, mit dem der Kläger wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer (...) verurteilt worden ist, kann dieser Umstand für die Überprüfung der Ausweisungsverfügung aus dem Jahre 1999 nicht berücksichtigt werden. Sowohl die Verurteilung als auch die Tatzeit (22. April 2000) liegen nach dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung und könnten deshalb nur als nachträgliche Bestätigung der von der Ausländerbehörde angestellten Gefährdungsprognose verwertet werden, nicht aber als Teil von deren Grundlage. Mangels einer fehlerfreien Ausweisungsprognose kann diese erneute Verurteilung aber nicht für die Entscheidung im Berufungsverfahren herangezogen werden.