OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27.07.2017 - 3 L 112/17 - asyl.net: M25359
https://www.asyl.net/rsdb/M25359
Leitsatz:

Abweisung eines Berufungszulassungsantrags des BAMF, da dieses sich nicht ausreichend mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismitteln und von ihm angestellten Erwägungen auseinandergesetzt hat.

(Leitsatz der Redaktion; in Abgrenzung dazu siehe OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.09.2017 - 2 LA 295/17 - asyl.net: M25511)

Schlagwörter: Syrien, Berufungszulassung, Wehrdienstentziehung, politische Verfolgung, Asylrelevanz, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, illegale Ausreise, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, Grundsätzliche Bedeutung, Berufungszulassungsantrag, Flüchtlingseigenschaft, Berufungszulassungsgründe, Darlegungsgebot, Begründung, Abweichung, Divergenz, Divergenzzulassung, Grundsatzzulassung, Militärdienst, Wehrpflicht, politische Verfolgung, Reservisten, illegale Ausreise, Flüchtlingsanerkennung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 28 Abs. 1a, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4,
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die Beklagte hat den geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG -) nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt. [...]

Die Antragsschrift wirft die Fragen auf,

"ob ins Ausland gereisten und dort befindlichen syrischen Männern im wehrpflichtigen Alter (18 - 42) Jahre) / ihnen gleichgestellt auch Reservisten (bis 54 Jahre) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das Assad-Regime politische Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung und deshalb zumindest unterstellter regimefeindlicher Haltung im (unterstellten) Rückkehrfall droht,

ob eine drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt, weil sie an die in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe anknüpft, sowie

ob Flüchtlingen, die vor ihrer Ausreise aus Syrien keinen Einberufungsbescheid erhalten haben, im Fall einer Rückkehr wegen einer möglichen Wehrdienstentziehung politische Verfolgung droht".

Die Beklagte hält diese Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig und beruft sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Rechtsprechung verschiedener Oberverwaltungsgerichte, wonach rückkehrenden syrischen Asylbewerbern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit deswegen politische Verfolgung droht, weil sie sich dem Wehrdienst in der syrischen Armee durch Flucht nach Deutschland entzogen haben (BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30371 -, juris; Saarl. OVG, Urteil vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -, juris; OVG RP, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -, juris; OVG NRW, Urteil vom 4. Mai 2017 - 14 A 2023/16.A -).

In der Regel indiziert die Abweichung eines Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung eines anderen als des im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Januar 1993 - 2 BvR 1058/92 -, juris Rn. 15; Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz [GK-AsylG], 110. Ergänzungslieferung, November 2016, § 78 Rn. 107). Allerdings ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht - auch nicht von Verfassungs wegen - geboten, jeden Fall der Abweichung eines Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung eines Oberverwaltungsgerichts eines anderen Bundeslandes als Fall einer grundsätzlichen Bedeutung anzusehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. März 1994 - 2 BvR 211/94 -, juris). Dies gilt insbesondere für Tatsachenfragen. […]

Die Grundsatzzulassung wegen Tatsachenfragen dient auch nicht etwa der umfassenden Kontrolle der verwaltungsgerichtlichen Ermittlung und Bewertung des individuellen Sachverhaltes und der Verfolgungslage im Herkunftsstaat. [...]

Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt dabei eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus. Es ist Aufgabe des Antragstellers, durch die Benennung bestimmter begründeter Informationen, Auskünfte, Presseberichte oder sonstiger Erkenntnisquellen zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür darzulegen, dass nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern seine gegenteiligen Bewertungen in der Antragsschrift zutreffend sind, so dass es zur Klärung der sich insoweit stellenden Fragen der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf. Dies kann durch eine eigenständige Bewertung der bereits vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismittel geschehen oder auch durch Berufung auf weitere, neue oder von dem Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte Erkenntnismittel. Dabei gilt allgemein, dass die Anforderungen an die Darlegung nicht überspannt werden dürfen, sondern sich nach der Begründungstiefe der angefochtenen Entscheidung zu richten haben (vgl. OVG LSA, Beschluss vom 29. März 2017 - 3 L 249/16 -, juris m.w.N.).

Beruft sich der Antragsteller darauf, dass andere Oberverwaltungsgerichte denselben Tatsachenstoff zu derselben Tatsachenfrage auf der Grundlage derselben rechtlichen Maßstäbe anders bewertet haben, vermag dies - aus den eingangs dargelegten Gründen - die fallbezogene Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung herangezogenen Erkenntnismittel nicht zu ersetzen. Auch in diesem Fall muss der Antragsteller darlegen, aus welchen Gründen nicht die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts, sondern die gegenteiligen Bewertungen der anderen (Ober-)Verwaltungsgerichte zutreffend sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Bewertung dieser Tatsachenfrage - wie hier - auch zwischen den Oberverwaltungsgerichten umstritten ist.

Diesen Anforderungen wird die Zulassungsschrift nicht gerecht. [...]

Das Verwaltungsgericht stützt seine Einschätzung, wonach ein erhebliches Risiko für den Kläger bestehe, durch den Entzug zum Wehrdienst von den syrischen Sicherheitsbeamten als Oppositioneller - und damit als Gegner des syrischen Staats in dem auf syrischem Boden geführten Bürgerkrieg - eingestuft zu werden, da er sich durch seine illegale Ausreise dem Militärdienst in der syrischen Armee bzw. dem Ersatzdienst in den National Defence Forces (NDF) entzogen habe (S. 9 des Urteils), auf eine Vielzahl von Erkenntnismitteln (Dt. Botschaft Beirut, Auskunft vom 3. Februar 2016; Immigration and Refugee Board of Canada, Auskunft vom 19. Januar 2016; U.K. Home Office, Country Information and Guidance, Syria: the Syrian Civil War, Stand: August 2016; UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015; SFH, Syrien: Rekrutierung durch die Syrische Armee, 30. Juli 2014; Amnesty International, Amnesty Report 2016 - Syrien). Bei der Bewertung der Rückkehrgefährdung nach Syrien zurückkehrender wehrpflichtiger Personen handelt es sich um eine den Tatsachengerichten vorbehaltene Sachverhalts- und Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017, a.a.O. juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht ist bei dieser Bewertung - wie etwa auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Urteil vom 14. Juni 2017 - A 11 S 511/17 -, juris) und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Urteil vom 14. Februar 2017 - 21 B 17.30073 -, juris) - zu dem Ergebnis gelangt, dass in Syrien der Wehrpflicht unterliegende Männer, die ohne Genehmigung der zuständigen Militärbehörden Syrien verlassen und sich im Ausland aufgehalten haben, im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

Auf den Inhalt dieser vom Verwaltungsgericht für seine Einschätzung herangezogenen Erkenntnismittel geht die Beklagte in der Zulassungsschrift nicht ein. [...]

Die Beklagte hat allerdings nicht dargelegt, dass sich die genannten Obergerichte in ihren Entscheidungen mit den vom Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung herangezogenen Erkenntnismitteln auseinandergesetzt haben. […]

Hat sich die Beklagte mit dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismaterial nicht hinreichend auseinandergesetzt und vermag sie sich auch auf andere, vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigte Erkenntnismittel nicht mit Erfolg zu berufen, kommt dem Inhalt der im Übrigen durch die Antragsschrift in Bezug genommenen Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte (Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 14. April 2015 - 7 A 280/13 -, juris; VG Trier, Urteil vom 10. Mai 2016 - 1 K 771/16 -, juris) keine ausschlaggebende Bedeutung zu. [...]

Letztlich läuft das Zulassungsbegehren darauf hinaus, der Senat möge sich hinsichtlich der Bewertung der Rückkehrgefährdung nach Syrien zurückkehrender wehrpflichtiger Personen - nach eigener Würdigung der von den Gerichten herangezogenen Erkenntnisquellen - der von der Beklagten zitierten Rechtsprechung anderer Oberverwaltungsgerichte anschließen. Das Oberverwaltungsgericht darf die Berufung allerdings nicht allein deshalb zulassen, weil Umstände gegeben sind, die eine berufungsgerichtliche Entscheidung wünschenswert erscheinen lassen.

Allerdings erfordert die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage - mit Blick auf den bereits erwähnten Beschleunigungsgedanken im Zulassungsverfahren - ein Mindestmaß an fallbezogener Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismitteln. Diesen Anforderungen wird die Zulassungsschrift nicht gerecht. [...]