VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.07.2017 - 11 S 2338/16 - asyl.net: M25280
https://www.asyl.net/rsdb/M25280
Leitsatz:

Keine Fortgeltung einer Verpflichtungserklärung nach Flüchtlingsanerkennung: Unklarheiten im Formulartext gehen zu Lasten der Behörde, die das Formular verwendet hat. Die Gesetzesänderung zur Verpflichtungserklärung ist nicht rückwirkend anwendbar.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Flüchtlingsanerkennung, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Geltungsdauer,
Normen: AufenthG § 68, AufenthG § 68a, AufenthG § 23 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Was den Umfang der mit der Erklärung vom 7. Oktober 2013 eingegangenen Verpflichtung, insbesondere deren zeitliche Geltung betrifft, ist der Wortlaut nicht eindeutig. Wenn auf die "Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck" abgestellt wird, so ist der Begriff des Aufenthaltszweck in hohem Maße mehrdeutig. Nach Auffassung des Beklagten, des Verwaltungsgerichts und mittlerweile auch des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 26.01.2017 - 1 C 10.16 -, juris) ist hiermit der historische Lebenssachverhalt maßgeblich, der die Aufnahme nach § 23 AufenthG veranlasst hatte, ungeachtet der Frage, in welcher rechtlichen Ausprägung diesem und dem daraus resultierenden Schutzbedürfnis der Betroffenen in concreto in der Bundesrepublik Deutschland Rechnung getragen wird, sofern nur dieser Lebenssachverhalt nach wie vor jedenfalls mitbestimmend für die Flüchtlingsanerkennung war und damit für die weitere Gestattung des Aufenthalts weiter ist. Die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 26. Januar 2017 (Rn. 27 ff., insbesondere Rn. 28) gehen noch darüber hinaus; hiernach wird eine Zweckidentität auch dann bejaht, wenn die Flüchtlingsanerkennung erfolgt wäre, weil sich die Betreffenden individuell als Regimegegner betätigt hätten und verfolgt würden völlig losgelöst von der konkreten Bürgerkriegssituation. Wie die verschiedenen abweichenden verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen (so etwa VG Minden, Urteil vom 30.03.2016 - 7 K 2137/15 -, juris; VG Wiesbaden, Urteil vom 09.12.2016 - 4 K 545/16.WI -. juris), aber auch die entsprechenden von den obersten Landesbehörden Hessen (vgl. das vom Prozessbevollmächtigte vorgelegte Schreiben des Innenministeriums vom 27. Mai 2015) und Nordrhein-Westfalens (vgl. Runderlass vom 24. April 2015; anders allerdings die Auffassung des Innenministeriums Baden-Württemberg an das Ministerium für Integration Baden-Württemberg sowie das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familien, Frauen und Senioren Baden-Württemberg im Schreiben vom 5. März 2015, das vom Beklagten vorgelegt worden war) stammenden Verlautbarungen zeigen, lässt sich mit guten Gründen auch eine Auslegung vertreten, die den konkreten durch den jeweiligen Titel vermittelten Status und dessen Qualität in den Vordergrund stellt. Denn zwischen der auf einer Aufnahmeanordnung beruhenden Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG und derjenigen nach § 25 Abs. 1 oder Absatz 2 AufenthG bestehen weitreichende Unterschiede. Die Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Landesaufnahmeanordnung wird ohne individuelle Prüfung der Schutzbedürftigkeit erteilt, während der Anspruch auf Titelerteilung nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG eine individuelle positive Prüfung des Anspruches auf Asyl- oder Flüchtlingsschutz voraussetzt, denn einer Anerkennung als Flüchtling liegt immer eine individuelle Verfolgungsgefahr zugrunde, auch wenn es sich - äußerstenfalls - um ein generelles Phänomen handelt; der Topos der Gruppenverfolgung führt auf keine andere Kategorie der Verfolgung, sie stellt lediglich eine Beweiserleichterung für die Betroffenen dar (vgl. etwa Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl., § 30 Rn. 2). Auch die jeweiligen Rechtsfolgen weichen in ihrer aufenthaltsrechtlichen Qualität erheblich voneinander ab. Diese zweite Sichtweise orientiert sich deutlicher an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum sog. Trennungsprinzip, die etwa nicht alle Titel nach dem Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes als einheitlichen Streitgegenstand begreift und ausdrücklich nach der Rechtsstellung und den Rechtsfolgen unterscheidet (vgl. etwa Urteil vom 11.02.2011 - 1 C 22.09 - InfAuslR 2011, 240); das Trennungsprinzip wird allerdings im Urteil vom 26. Januar 2017 ausdrücklich im vorliegenden Kontext verworfen. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass sie und ihr Ehemann bei der Abgabe ihrer Erklärung davon ausgegangen seien, nur für den Aufenthalt zu haften, der durch das Aufnahmeverfahren ermöglicht und erlaubt worden sei, es sei ihnen nicht in den Sinn gekommen, dass später auch eine Flüchtlingsanerkennung erfolgen werde, was auch bereits Inhalt ihres Vorbringens im Kontext der Irrtumsanfechtung war, auf die es aber hier nicht mehr ankommt. Der Prozessbevollmächtigte erläuterte, dass er die Familie und auch die Betroffenen in anderen Fällen in dieser Weise beraten habe. Aus den vom Senat beigezogenen Ausländerakten der Familie … ergeben sich im Übrigen keine weiteren Hinweise (Erläuterungen, Belehrungen, Aktenvermerke etc.), dass die Kläger bei der Abgabe der Erklärung in einer bestimmten, das Verständnis des Beklagten stützenden Weise beraten worden sein könnten, was die Klägerin in der mündlichen Verhandlung auch bestätigt hat. Es finden sich lediglich Anträge auf Ausstellung einer Verpflichtungserklärung (grün), auf deren Rückseite aber nur der Wortlaut der Erklärung selbst wiederholt wird.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 27. Februar 2006 - 11 S 1857/05 - juris; ihm folgend NiedersOVG, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 11 LC 88/06 - juris), die durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 (1 C 10.16 - juris) nicht überholt ist, ist von Folgendem auszugehen:

"… Zur Auslegung von Inhalt und Reichweite von Verpflichtungserklärungen sind die Regeln des bürgerlichen Rechts über die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 1 C 33.97 -, BVerwGE 108, 1; Bay. VGH, Urteil vom 30.06.2003 - 24 BV 03.122 -, BayVBl. 2003, 751; Beschluss des Senats vom 19.04.2005 - 11 S 1555/04 -; Funke-Kaiser in: GK-AuslR, § 84 Rn. 9). Nach diesen Regeln ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an einem buchstäblichen Sinne des Erklärten zu haften. Maßgebend ist allerdings nicht der innere, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei objektiver Würdigung aller maßgeblichen Begleitumstände und des Zwecks der Erklärung verstehen konnte (vgl. etwa Hess. VGH, Urteil vom 29.08.1997 - 10 UE 2030/95 -, InfAuslR 1998, 166). Auszugehen ist deswegen grundsätzlich von dem Standpunkt dessen, für den die Erklärung bestimmt ist (BVerwG, Urteil vom 26.09.1996 - 2 C 39.95 -, BVerwGE 102, 81 = VBlBW 1997, 135 m.w.N.), also dem Empfängerhorizont. Das wäre hier der Horizont der Ausländerbehörde. Auf den Empfängerhorizont kann bei der Auslegung einer Willenserklärung aber dann nicht maßgeblich abgestellt werden, wenn eine Erklärung in einem Formular des Erklärungsempfängers abgegeben wird. Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Auslegung vorformulierter Unterlassungserklärungen (vgl. etwa Urteil vom 17.07.1997 - 1 ZR 40/95 -, NJW 1997, 3087; vgl. auch Heinrichs in: Palandt, Komm. z. BGB, 65. Aufl., § 133 Rn. 9 m.w.N.) und zu allgemeinen Geschäftsbedingungen wird auch für das öffentliche Recht zutreffend abgeleitet, dass sich bei Verwendung eines Formulars des Erklärungsempfängers der dargelegte Auslegungshorizont ändert (vgl. etwa OVG Meckl.-Vorp., Beschluss vom 04.03.2002 - 2 L 170/01 -, DÖD 2002, 255 = NVwZ-RR 2003, 5): Dann kommt es maßgeblich jedenfalls auch darauf an, wie der Erklärende - hier also die Klägerin - seine Aussage hat verstehen dürfen; verbleiben Unklarheiten, gehen diese zu Lasten des Formularverwenders (§ 305c Abs. 2 BGB entspr.). Unter Anwendung dieser Kriterien auf den vorliegenden Fall ergibt sich für den Senat nicht eindeutig, dass die Klägerin auch die Kosten einer Ausreise ihres Cousins für eine Abschiebung übernehmen wollte, die nicht nur nach dem Ablauf von drei Monaten nach seiner Einreise, sondern zudem auch erst nach Durchführung eines Asylverfahrens erfolgte. Diese Unsicherheit geht zu Lasten des Beklagten, der sich insoweit die Formularverwendung und -entgegennahme durch die Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Kiel zurechnen lassen muss (vgl. zur Zurechnung OVG Nieders., Urteil vom 27.08.1998, a.a.O.). Eine derart weitreichende Verpflichtung der Klägerin für die Kosten einer Ausreise lässt sich dem von ihr unterzeichneten Erklärungsformular nicht eindeutig entnehmen. Bei der Auslegung des Umfangs der Erklärung sind zwar auch weitere Umstände, insbesondere eine vor Abgabe erfolgte Aufklärung zu würdigen. Auch dann verbleiben aber - ungeachtet der Angabe im Formular, die Klägerin sei über Art und Umfang der Haftung aufgeklärt worden – Unklarheiten …"

Da, wie dargelegt, für den durchschnittlichen laienhaften Empfänger, aber, wie die verschiedenen behördlichen Stellungnahmen und einschlägigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen eindrücklich belegen, auch für Fachleute, ein eindeutiges Verständnis und Auslegungsergebnis nicht möglich ist, müssen hier die beschriebenen Unklarheiten zu Lasten des Beklagten als Verwender des einschlägigen Formulars gehen. Dies hat zur Folge, dass vom Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 2 AufenthG an …, … und … keine Haftung mehr aus der Verpflichtungserklärung folgt. Dass das nunmehr geltende Recht in § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG n.F. ausdrücklich bei jedem Titel nach dem 5. Abschnitt von einem unerheblichen Zweckwechsel ausgeht, ist für die Auslegung der vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung abgegebenen Erklärung unerheblich. [...]