LSG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.06.2017 - L 31 AS 848/17 B ER - asyl.net: M25264
https://www.asyl.net/rsdb/M25264
Leitsatz:

[Zur Freizügigkeitsberechtigung aufgrund selbstständiger Erwerbstätigkeit iSd § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU:]

1.) Der Senat lässt Quittungen und Belege für Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen der freien Beweis­würdigung nach § 128 SGG in der Regel nicht mehr genügen. Die unbare Kontozahlung kann heute als der absolute Regelfall angesehen werden, zumal wenn der Antragsteller über ein Konto verfügt. Allenfalls unter darzulegenden besonderen Umständen ist eine bare Lohnauszahlung als Beweis für ein Arbeitsverhältnis glaubhaft.

2.) Die Weitergabe von Geld- oder Sachleistungen an Dritte, die vom SGB II- oder vom SGB XII-Träger zur Erfüllung eines Anspruches auf Grundsicherung an eine anspruchsberechtigte Person gezahlt werden, vermag grundsätzlich keine Arbeitnehmereigenschaft dieser dritten Person zu begründen, dies auch dann nicht, wenn sich der Leistungsempfänger und die dritte Person darüber verständigen, dass diese Leistungsweitergabe für "haushaltsnahe Dienstleistungen" geschehe und hierüber ein "Arbeitsvertrag" geschlossen werde. Eine "Erwerbstätigkeit" i.S.d. § 2 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU ist hierin nicht zu sehen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Unionsbürger, Arbeitnehmereigenschaft, Pflegetätigkeit, Pflegegeld, Konto, Barzahlung, Nachweis, Beweis,
Normen: FreizügG/EU § 2, FreizügG/EU § 3, SGG § 86b, SGG § 128, SGB II § 7, SGB II § 19
Auszüge:

[...]

22 Ein Anordnungsanspruch aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II scheitert daran, dass die Antragstellerin im streitigen zuerkannten Zeitraum dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterlag bzw. weiterhin unterliegt. Als Unionsbürgerin darf sich die erwerbsfähige Antragstellerin gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 bzw. § 3 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zwar zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten, ein Anspruch auf Leistungen bestand und besteht dabei jedoch nicht, weil nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen ausgenommen sind. Etwas anderes gilt nach Satz 4 der Vorschrift lediglich für u.a. Ausländerinnen, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, was für die Antragstellerin nicht einschlägig ist. Die Voraussetzungen des Leistungsausschlusses sind erfüllt, weil sich die Antragstellerin im streitigen Zeitraum lediglich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhielt bzw. weiter aufhält.

23 Ein anderes Aufenthaltsrecht als das wegen der Arbeitssuche bestand bzw. besteht für die Antragstellerin im streitigen Zeitraum nicht. Gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügigG/EU bleibt zwar bei unfreiwilliger und durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung das Aufenthaltsrecht aufgrund einer früheren Beschäftigung während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Abgesehen davon, dass eine Bestätigung der Agentur für Arbeit über die unfreiwillige Arbeitslosigkeit nicht beigebracht wurde, führt die von der Antragstellerin für Herrn A ausgeübte Pflegetätigkeit nicht zu einem Aufenthaltsrecht auf dieser Grundlage. Denn zur Überzeugung des Senats begründete diese Tätigkeit keine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.

24 Den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) lässt sich zwar keine bestimmte Grenze in Bezug auf Einkommen und Arbeitszeit entnehmen, unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft verneint werden muss. Der EuGH hat vielmehr immer deutlich gemacht, dass eine vorzunehmende Würdigung der Gesamtumstände letztlich den Gerichten der Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 – Rs. C-14/09). Er selbst hat die unionsrechtlich autonom zu definierende Arbeitnehmereigenschaft eines Musiklehrers mit zwölf Wochenstunden Unterricht (Urteil vom 3. Juni 1986 – Rs. C-139/85) und einem monatlichen Einkommen von 985 HFL (dies entspricht knapp 500,00 €) sowie die einer Studienreferendarin mit bis zu 11 Wochenstunden (Urteil vom 3. Juli 1986 - Rs. C-66/85) bejaht. In weiteren Verfahren ging es um eine wöchentliche Arbeitszeit, die zwischen 10 und 25 Stunden lag (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 24. Januar 2008 - Rs. C-294/06; Urteil vom 14. Dezember 1995 - Rs. C-444/93). Auch in der nationalen Rechtsprechung finden sich einzelne Entscheidungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft begründet wird. So wurden beispielsweise eine Tätigkeit von 5,5 Wochenstunden und später 36 Monatsstunden sowie ein Entgelt von 154,00 € und danach 252,00 € (OVG Bremen, Urteil vom 28. September 2010 – 1 A 116/09), eine Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und ein Lohn von 650,00 DM in 1997 (VG München, Urteil vom 2. Februar 1999 – M 21 K 98.750) bzw. eine Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und ein Lohn von 100,00 € (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 14 AS 23/10 R) sowie eine Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und ein Lohn von 175,00 € (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. März 2011 – OVG 12 B 15.10) als (gerade noch) ausreichend angesehen. Dagegen wurde eine Arbeitszeit von drei bis vier Stunden an einem Arbeitstag pro Woche "zu einem völlig belanglosen Entgelt" (VG München, Urteil vom 2. Februar 1999 – M 21 K 98.750) und ein monatliches Entgelt von 300,00 € und eine Wochenarbeitszeit von 10 bis 12 Stunden (VG Darmstadt, Urteil vom 22. Februar 2008, InfAuslR 2008, 344 f.) als völlig unwesentlich angesehen. Weder den Entscheidungen des EuGH, des BSG oder der anderen nationalen Gerichte lässt sich folglich eine bestimmte Grenze in Bezug auf Einkommen oder Arbeitszeit entnehmen, oberhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft bejaht bzw. unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft verneint werden muss. Nach dem BSG ist "Arbeitnehmer" im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 FreizügG/EU zwar auch derjenige Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes Einkommen verfügt, wobei das BSG hierfür ein monatliches Entgelt von 100,- Euro ausreichen ließ (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az. B 14 AS 23/10 R, zitiert nach juris). Zugleich hat das BSG in der (knappen) Begründung seiner diesbezüglichen Subsumtion im entschiedenen Fall jedoch auf die Rechtsprechung des EuGH verwiesen. Nach dem EuGH fällt jeder Arbeitnehmer, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt - mit Ausnahme derjenigen Arbeitnehmer, deren Tätigkeit einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt - unter die Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Als "Arbeitnehmer" ist dabei jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zwar kann der Umstand, dass im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses nur sehr wenige Arbeitsstunden geleistet werden, ein Anhaltspunkt dafür sein, dass die ausgeübten Tätigkeiten nur untergeordnet und unwesentlich sind, doch lässt es sich unabhängig von der begrenzten Höhe des aus einer Berufstätigkeit bezogenen Entgelts und des begrenzten Umfangs der insoweit aufgewendeten Arbeitszeit nicht ausschließen, dass die Tätigkeit aufgrund einer Gesamtbewertung des betreffenden Arbeitsverhältnisses von den nationalen Stellen als tatsächlich und echt angesehen werden kann und es somit ermöglicht, dem Beschäftigten die Arbeitnehmereigenschaft zuzuerkennen. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses des Betroffenen sind nicht nur Gesichtspunkte wie die Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung zu berücksichtigen, sondern auch solche wie der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung eines Tarifvertrags auf den Arbeitsvertrag sowie der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis mit demselben Unternehmen längere Zeit bestanden hat. Diese letztgenannten Gesichtspunkte können darauf hindeuten, dass es sich bei dieser Erwerbstätigkeit um eine tatsächliche und echte Tätigkeit handelt (so insgesamt EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010, Az. C-14/09, zitiert nach juris, wo es um eine wöchentliche Arbeitszeit von 5,5 Stunden und einen monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 Euro ging).

25 Das behauptete Arbeitsverhältnis der Antragstellerin für eine Tätigkeit als Pflegekraft und die Erbringung "haushaltsnaher Dienstleistungen" für Herrn A war jedenfalls lediglich völlig untergeordnet und unwesentlich im Sinne der zitierten Rechtsprechung. Zunächst einmal ist ein tatsächlicher Zufluss von Entgelt nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat drei Quittungen über Barauszahlungen vorgelegt. Der Senat lässt derartige Belege für Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG in der Regel nicht mehr genügen. Die unbare Kontozahlung kann heute als der absolute Regelfall angesehen werden, zumal die Antragstellerin über ein Konto verfügt. Allenfalls unter darzulegenden besonderen Umständen ist eine bare Lohnauszahlung als Beweis für ein Arbeitsverhältnis glaubhaft (so bereits LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Juni 2017, Az. L 31 AS 1074/17 B ER). Derartige besondere Umstände sind zugunsten der Antragstellerin nicht ersichtlich. Gegen eine Auszahlung von frei verfügbarem Entgelt für geleistete Arbeit spricht dabei, dass Herr A selbst Grundsicherungsempfänger ist und nicht ersichtlich oder vorgetragen ist, weshalb er über das angeblich an die Antragstellerin ausgezahlte Geld überhaupt verfügte. Die wiederholte Beschreibung, dass der Antragstellerin "Kost und Logis" gewährt wurde, legt hingegen nahe, dass dieses Geld nicht an sie zur freien Verfügung ausgezahlt wurde, sondern dass hiermit – ggf. teilweise - für den gemeinsamen Haushalt eingekauft wurde. Eine Anmeldung bei der Minijob-Zentrale kann zwar grundsätzlich für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses sprechen. Vorliegend erfolgte die Anmeldung der Tätigkeit bei der Minijob-Zentrale allerdings erst mit Schreiben vom 27. Januar 2017, also ca. 9 Monate nach der angeblichen Tätigkeitsaufnahme im April 2016 und zu einem Zeitpunkt, als nach den eigenen Angaben der Antragstellerin ihr ein Entgelt nicht mehr gezahlt werden konnte und jedenfalls aufgrund der Anhörung des Bezirksamtes N von Berlin zum Bescheid vom 6. Februar 2017 klar war, dass "Kost und Logis" für sie nicht weiter übernommen werden würden. Eine nachträgliche Anmeldung unter diesen Umständen beweist ein Arbeitsverhältnis nicht. Auch enthält das Vorbringen der Antragstellerin keine Angaben dazu, ob das behauptete Arbeitsverhältnis beendet wurde, weil der angeblich geschuldete Lohn nicht mehr gezahlt wird, oder ob es noch fortbesteht.

26 Unterstellt man, was aufgrund des Vorbringens der Antragstellerin im Zusammenhang mit den Gesamtumständen glaubhaft ist, dass Herr A ihr das erhaltene Pflegegeld in Höhe von 122 Euro monatlich ausgezahlt hat, so vermag diese Zahlung kein mehr als nur lediglich völlig untergeordnetes und unwesentliches Arbeitsverhältnis zu begründen. Mit dem Geld kann nur ein Bruchteil des Bedarfes der Antragstellerin gedeckt werden. Entgegen den erstinstanzlichen Ausführungen ist für die Entgelthöhe keineswegs zu berücksichtigen, dass der Antragstellerin von Herrn A "Kost und Logis" gewährt worden seien. Die Kosten für die Wohnung des Herrn A hat nämlich nicht er selbst getragen, sondern das Bezirksamt N von Berlin. Die Weitergabe von Geld- oder Sachleistungen an Dritte, die vom SGB II- oder vom SGB XII-Träger zur Erfüllung eines Anspruches auf Grundsicherung an eine anspruchsberechtigte Person gezahlt werden, vermag grundsätzlich keine Arbeitnehmereigenschaft dieser dritten Person zu begründen, dies auch dann nicht, wenn sich der Leistungsempfänger und die dritte Person darüber verständigen, dass diese Leistungsweitergabe für "haushaltsnahe Dienstleistungen" geschehe und hierüber ein "Arbeitsvertrag" geschlossen werde. Eine "Erwerbstätigkeit" i. S. des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügigG/EU ist hierin nicht zu sehen. Nichts anderes ergibt sich vorliegend daraus, dass das Bezirksamt N von Berlin den auf die Miete der Antragstellerin entfallenden Anteil gegenüber Herrn A zurück fordert. Denn die Richtigkeit der Angaben der Antragstellerin zu ihren eigenen finanziellen Verhältnissen und denen des Herrn A unterstellt wird dieses Rückforderungsbegehren keine Aussicht auf Erfolg haben.

27 Für welche Arbeitszeit das behauptete Arbeitsentgelt geschuldet gewesen sein soll, wurde nicht vorgetragen. Bei Zugrundelegung eines Mindestlohns von 8,84 Euro ab 1. Januar 2017 wurden damit 13,80 Stunden im Monat bezahlt, also weniger als 3 ½ Stunden wöchentlich. Auch diesbezüglich hält der Senat an seiner Rechtsprechung fest, nach der Tätigkeiten von etwa einer Stunde täglich, 7 Stunden wöchentlich oder 20 Stunden monatlich von untergeordneter Bedeutung sind und einen Arbeitnehmerstatus nicht begründen (Beschluss vom 17. Februar 2015, L 31 AS 3100/14 B ER, zitiert nach juris, daran anschließend, aber unveröffentlicht: Beschluss vom 18. März 2016, L 31 AS 248/16 B ER und Beschluss vom 19. September 2016, L 31 AS 2058/ 16 B ER). Es ist auch kein Grund ersichtlich oder vorgetragen, weshalb die Tätigkeit trotz des geringen Entgeltes aufgrund einer Gesamtbewertung ausnahmsweise als tatsächlich und nicht nur unwesentlich angesehen werden sollte. Ein Arbeitsvertrag, mit dem Arbeitnehmerrechte begründet worden wären, wurde nicht vorgelegt. [...]