VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 08.02.2017 - 5 A 3028/16 As SN - asyl.net: M25244
https://www.asyl.net/rsdb/M25244
Leitsatz:

Kein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverboten für ukrainische Staatsangehörige der Volksgruppe der Roma.

(Amtlicher Leitsatz; zahlreiche Angaben und Quellen zur Situation von Roma und Binnenvertriebenen in der Ukraine)

Schlagwörter: Ukraine, Binnenvertriebene, Binnenflüchtlinge, Roma, Diskriminierung, Existenzgrundlage, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3 e,
Auszüge:

[...]

Soweit die Kläger sinngemäß auf den Konflikt in der Ostukraine und auf die Situation in den vom ukrainischen Staat nicht kontrollierten Gebieten hinweisen, sind sie auf andere Landesteile der Ukraine zu verweisen, in denen es keine politische Spannungen wie in Teilbereichen gibt (vgl. VG Köln, Gerichtsbescheid vom 27. Mai 2016 – 13 K 5585/15.A –, Rn. 21, juris). Insbesondere können die Kläger in die zwar in der Ostukraine liegenden, aber unter der Kontrolle des ukrainischen Staates stehenden Gebiete zurückkehren (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. August 2016 – 11 ZB 16.30132 –, Rn. 8, juris).

Soweit die Kläger vortragen, sie hätten ihr Heimatland wegen Bedrohungen und Angriffe nichtstaatlicher Dritter verlassen, kann dahinstehen, ob diese Ausführungen ausreichend substantiiert sind. Denn jedenfalls ist nicht ersichtlich, dass die ukrainischen Sicherheitsbehörden nicht willens oder in der Lage sind, den Klägern Schutz vor einem ernsthaften Schaden durch nichtstaatliche Akteure zu gewähren (vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. Dezember 2016 – 11 ZB 16.30679 –, Rn. 7, juris). Daher sind die Kläger auf den innerstaatlichen Schutz in der Ukraine durch dortige Behörden – insbesondere durch die ukrainische Polizei – zu verweisen.

Zwar ist die Kriminalitätsrate in der Ukraine nach wie vor hoch. Die Situation wird zusätzlich durch die weitverbreitete Korruption und die mangelhafte Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden verschärft (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23. April 2015).Ferner haben die ukrainischen Sicherheitsbehörden nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Februar 2016 sowjetische Traditionen noch nicht abgestreift. Reformen werden von Teilen des Staatsapparats abgelehnt. Auch ist die Justiz in der Praxis politischem Druck ausgesetzt und wird durch Korruption, Ineffizienz und Mangel an Vertrauen der Öffentlichkeit geschwächt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016).

Hingegen ist nach aktuellen Auskünften auch festzustellen, dass sich die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis zunehmend an westeuropäischen Standards orientiert und wichtige Reformen erfolgreich durchgeführt worden sind, u.a. im Bereich der Polizei (vgl. Lagebericht vom 11. Februar 2016). Die Ukraine ist Vertragsstaat der meisten Menschenrechtskonventionen und die ukrainische Verfassung garantiert eine unabhängige Justiz. Verfassung und Gesetze garantieren das Recht auf Regress für Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Von Gesetzes wegen werden alle wesentlichen verfahrensrechtlichen Garantien gewährleistet. Hinsichtlich der oben genannten Probleme durch politische Einflussnahme, Korruption und Ineffizienz ist zu berücksichtigen, dass das Augenmerk auf der schleppenden strafrechtlichen Aufarbeitung und Verfolgung von Angehörigen der Sicherheitskräfte wegen exzessiver, unnötiger und unrechtmäßiger Gewaltanwendung im Zusammenhang mit dem Euromaidan liegt (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 19. Mai 2016 – Au 2 K 16.30426 –, Rn. 20, juris).

Die EU errichtete eine "EU Advisory Mission for Civilian Security Reform Ukraine", um die Ukraine bei der Reform ihres zivilen Sicherheitssektors zu unterstützen, insbesondere bei der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und im Bereich der Polizei. Mit Präsidentendekret vom 6. April 2012 wurde ein Komitee zur Reform der Strafverfolgungsbehörden eingerichtet (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Ferner wurde im April 2014 ein Gesetz zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Justiz verabschiedet, demzufolge die bisherige Praxis der weitgehenden Unterstellung der Richter unter die Gerichtspräsidenten abgeschafft wurde und diese in weiterer Folge unabhängig von politischen Einflüssen machte. Ein Entwurf einer Justizreformstrategie wurde gemeinsam mithilfe der EU entwickelt (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Das Parlament erließ am 14. Oktober 2014 verschiedene Maßnahmen, um gegen die weit verbreitete Korruption vorzugehen. Die Schaffung eines Anti- Korruptionsbüros ist vorgesehen, das Gesetz dazu sollte am 25. Januar 2015 verabschiedet werden. Das Büro soll vor allem gegen hochrangige, korrupte Beamte ermitteln (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23. April 2015). Der während der Präsidentschaft Janukowitsch zu beobachtende Missbrauch der Justiz als Hilfsmittel gegen politische Mitbewerber und kritische Mitglieder der Zivilgesellschaft hat sich unter den neuen politischen Voraussetzungen nach den revolutionären Entwicklungen des Euromaidan vom Winter 2013/14 nicht prolongiert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Vor diesem Hintergrund kann nicht festgestellt werden, dass ein etwaiges Schutzersuchen der Kläger bei den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden – einschließlich der ukrainischen Polizei – von vorne herein aussichtslos wäre.

Soweit die Kläger geltend machen, bei örtlichen Polizeibehörden hätten sie keinen Schutz erhalten oder zu erwarten, hätten sie sich jedenfalls an andere oder höherrangige Polizeidienststellen oder an Nichtregierungsorganisationen wenden können. Ferner können sich Einzelpersonen an den parlamentarischen Ombudsmann für Menschenrechte wenden. Nach Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe steht auch der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte offen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Dass es den Klägern unmöglich gewesen sein könnte, bei entsprechenden Stellen um Schutz nachzusuchen, ist nicht dargetan.

Im Übrigen besteht für die Kläger die Möglichkeit, sich einem an dem Wohnort drohenden Konflikt durch Umzug in einen entfernt liegenden Landesteil und dort bestehenden hoheitlichen Schutz zu entziehen.

Soweit die Kläger geltend machen, sie könnten in der Ukraine nicht einmal ein Existenzminimum sicherstellten, führt auch die dies nicht zur Annahme, dass ihnen nach den oben dargestellten Vorgaben in der Ukraine eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung drohen könnte. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Februar 2016 sind die Existenzbedingungen im Landesdurchschnitt knapp ausreichend und die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ist gesichert, auch wenn die Situation gerade der auf staatliche Versorgung angewiesenen älteren Menschen, Kranken, Behinderten und Kinder karg ist (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 19. Mai 2016 – Au 2 K 16.30426 –, Rn. 21, juris; VG München, Urteil vom 12. August 2015 – M 16 K 14.31091 –, Rn. 20, juris). [...]

Nach einem am 19. November 2014 vom Präsidenten unterzeichneten Gesetz besteht ferner eine gesetzliche Grundlage für die Registrierung, Versorgung und Unterbringung von Binnenflüchtlingen in der Ukraine (vgl. Lagebericht vom 11. Februar 2016; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. August 2016 – 11 ZB 16.30136 –, Rn. 9, juris). Insbesondere gibt es ein Recht auf kostenfreie Unterkunft für die Dauer von sechs Monaten, beginnend ab dem Zeitpunkt der Registrierung. Die Flüchtlinge müssen lediglich die Betriebskosten zahlen. Für Großfamilien, Behinderte und ältere Personen kann zudem eine langfristige, kostenfreie Unterkunft gestellt werden (vgl. IOM, Auskunft vom 13. Januar 2016). Der Erhalt von Dokumenten ist für Binnenflüchtlinge erleichtert. Binnenflüchtlinge erhalten vom Staat ferner eine sechsmonatige finanzielle Unterstützung. Um diese Unterstützung zu erhalten, muss sich der Flüchtling registrieren lassen und einen Nachweis über den Status als Binnenflüchtling vorweisen. Der Flüchtling kann diesen Nachweis kostenfrei in den lokalen Verwaltungsbehörden, die sich mit sozialer Sicherheit beschäftigen, am Wohnsitz erhalten. Der Flüchtling benötigt hierfür einen Personalausweis oder ein anderes Dokument, welches den früheren Wohnort auf der Krim oder in der Donbassregion nachweist (vgl. IOM, Auskunft vom 13. Januar 2016). Personen, die wegen der russischen Besetzung der Krim geflohen sind, erhalten staatliche Hilfen zur Umsiedlung in andere Regionen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 12. Juni 2015 mit Kurzinformation vom 15. April 2016). Gesetzlich verboten ist die Diskriminierung von Binnenflüchtlingen, jeder Rückkehrzwang ist ausgeschlossen und eine Unterstützung für die freiwillige Rückkehr ist geregelt. Daneben erleichtert ein Gesetz die Anmeldung am neuen Wohnort, die nötig ist, um ein Bankkonto zu eröffnen und ein Gewerbe anzumelden, sowie den Zugang zu bestimmten sozialen Leistungen – insbesondere zur Arbeitslosenunterstützung und zu Rentenzahlungen. Darüber hinaus verpflichtet das Gesetz die Regierung, eine Integrationspolitik für Binnenflüchtlinge zu entwickeln, die eine bessere langfristige Planung für die Betroffenen ermöglichen soll. Im März 2015 trat ein Gesetz in Kraft, das die Situation von Binnenflüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt leicht verbesserte. Der Staat bietet Arbeitgebern, die Binnenflüchtlinge einstellen, für bis zu sechs Monaten – in manchen Regionen bis zu einem Jahr – eine Kompensation der Lohnkosten. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber sich verpflichtet, die Person für einen Zeitraum zu beschäftigen, der mindestens doppelt so lang ist, wie jener, in dem er die Kompensationszahlungen erhält. Eine weitere Verbesserung der Lage der Binnenflüchtlinge versprechen einige neuere Gesetze. So sollen etwa Binnenflüchtlinge eine stärkere staatliche Finanzierung bei der Berufsausbildung sowie der Hochschulbildung erhalten (vgl. Olga Gulina, Nie wieder Krieg, Flüchtlinge aus der Ostukraine, Osteuropa, 65. Jg., 4/2015, S. 131, 137).

Auch ist zu berücksichtigen, dass nach der Antwort der Bundesregierung vom 19. April 2016 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Andrej Hunko, Dr. Alexander S. Neu, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. – Drucksache 18/7829 – Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten in der Behandlung von Binnenvertriebenen durch ukrainische Behörden bekannt sind. Für eine regelmäßige oder vorsätzliche Diskriminierung von Binnenvertriebenen liegen der Bundesregierung jedoch keine Hinweise vor. [...]

Nichts anderes ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu der Volksgruppe der Roma. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Februar 2016 ist unstreitig, dass große Teile der Romabevölkerung sozial marginalisiert und benachteiligt sind und in der Bevölkerung teilweise erhebliche Vorurteile gegen Roma bestehen. So führt z.B. häufig eine fehlende Geburtsregistrierung zu Benachteiligungen bei der Gesundheitsversorgung und der Schulbildung. Auch nach dem Bericht des Office for Democratic Institutions and Human Rights – ODIHR – von August 2014 leben Angehörige der Volksgruppe der Roma häufig unter sehr schwierigen Lebensbedingungen. Diese beruhen insbesondere auf Schwierigkeiten beim Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung und Beschäftigung, unzureichenden Wohnverhältnissen, Fehlverhalten der Polizei und darauf, dass Roma häufig nicht über Personaldokumente verfügen. Oft beruhen Probleme auch darauf, dass Roma keine Kenntnis über die zur Verfügung stehenden Hilfsangebote haben oder nicht wissen, wo diese zu finden sind. Des Weiteren sind Angehörige der Volksgruppe der Roma häufig Opfer von Bedrohungen und körperlichen Angriffen (vgl. ODIHR, August 2014; United States Department of State, Human Rights Report Ukraine 2015; UNHCR, The Protektion of Minorities in Ukraine: Roma and Crimean Tatars, November 2016).

Es liegen jedoch keine Erkenntnisse für eine staatliche Diskriminierung vor (vgl. Lagebericht vom 11. Februar 2016). [...]