LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.02.2017 - L 9 SO 691/16 B ER, L 9 SO 692/16 B - asyl.net: M25192
https://www.asyl.net/rsdb/M25192
Leitsatz:

Der Leistungsträger darf die Gewährung von Sozialleistungen nicht unter Verweis auf eine bestehende Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG verweigern. Die Verpflichtungserklärung ermöglicht nur einen Regress der öffentlichen Stelle, die Mittel aufgewendet hat, bei der verpflichteten Person.

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Sozialrecht, Sozialhilfe, einstweilige Anordnung, Sozialleistungen, Hilfe zum Lebensunterhalt, SGB XII, Regelbedarf, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB XII § 42 Nr. 1, SGB XII § 27a Abs. 3, SGB XII § 28, SGB XII § 19 Abs. 2, SGB XII § 41, AufenthG § 25 Abs. 2, AufenthG § 68 Abs. 1, AufenthG § 68 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 68 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 68 Abs. 2 S. 3, SGB XII § 2 Abs. 1, SGB XII § 82, AufenthG § 68, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Das Sozialgericht hat den Eilantrag zu Unrecht abgelehnt, soweit die Antragsteller Hilfe zum Lebensunterhalt in Form der für sie geltenden Regelbedarfe begehren. [...]

b) Die Antragsteller haben ab dem 14.11.2016 (Antragstellung bei dem Sozialgericht) hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Form der für sie jeweils geltenden Regelbedarfe (§§ 42 Nr. 1, 27a Abs. 3, 28 SGB XII) für die Zeit vom 01.11.2016 bis zum 31.03.2017 einen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

aa) Der 1940 geborene Antragsteller und seine Ehefrau, die 1947 geborene Antragstellerin, gehören gemäß §§ 19 Abs. 2, 41 ff. SGB XII zum nach dem Vierten Kapitel des SGB XII dem Grunde nach anspruchsberechtigten Personenkreis der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Dem steht auch ihre syrische Staats­angehörigkeit nicht entgegen, weil sie seit dem 06.04.2016 als anerkannte Flüchtlinge über eine Aufenthalts­erlaubnis nach § 25 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes - (AufenthG) verfügen. [...]

Die Antragsgegnerin kann dem Begehren der Antragsteller auch nicht die mit Wirkung vom 19.05.2014 zu Gunsten der Antragsteller abgegebene Verpflichtungserklärung des Herrn B J gemäß § 68 Abs. 1 AufenthG i.d.F. bis 05.08.2016 entgegenhalten. [...] Zwar ist der Antragsgegnerin zuzugeben, dass die Verpflich­tungserklärung des Herrn ... trotz des geänderten Aufenthaltstitels der Antragsteller (§ 25 Abs. 2 statt 23 Abs. 1 AufenthG) weiterhin fortwirkt, weil auch unter Geltung der bis zum 05.08.2016 gültigen Fassung des § 68 Abs. 1 AufenthG die nach der Flüchtlingsanerkennung erteilten Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG nicht zu einem "anderen Aufenthaltszweck" erteilt worden sind (so BVerwG, Urt. v. 26.01.2017 - 1 C 10.16 - Pressemitteilung Nr. 3/2017). § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der seit dem 06.08.2016 geltenden Fassung, der ein Erlöschen der Verpflichtungserklärung in diesen Fällen nunmehr ausdrücklich ausschließt, dient insoweit lediglich der Klarstellung. Allerdings ist schon dem Wortlaut des § 68 Abs. 1 AufenthG ohne Weiteres zu entnehmen, dass aus der Verpflichtungserklärung lediglich eine Regresspflicht des Erklärenden gegenüber der öffentlichen Stelle resultiert. Damit dürfen Leistungen gegenüber Hilfebedürftigen wie den Antragstellern nicht per se, d.h. unter Hinweis auf das bloße Bestehen der Verpflichtungserklärung, ausgeschlossen werden. Vielmehr soll sich diejenige öffentliche Stelle, die öffentliche Mittel aufgewendet hat, diese gerade vom Verpflichtungs­geber erstatten lassen, § 68 Abs. 2 Satz 3 AufenthG (zutr. SG Detmold, Beschl. v. 02.04.2015 - S 2 SO 102/15 ER -, juris Rn. 19). Ebenso ist etwa das im o.a. Verfahren des BVerwG beklagte Jobcenter verfahren, indem es mit Leistungsbescheid von dem dortigen Verpflichtungsgeber die Erstattung von Aufwendungen nach dem SGB II für seine drei Verwandten gefordert hat, was rechtmäßig gewesen ist.

In Anwendung allgemeiner Grundsätze des Sozialhilferechts folgt daraus: Die Antragsgegnerin kann die begehrte Leistung unter Hinweis auf §§ 2 Abs. 1, 82 SGB XII nur dann insoweit ablehnen, wenn die Antragsteller ihren Bedarf ganz oder teilweise durch Zuwendungen des Herrn B J tatsächlich decken können. Ist dies jedoch - so wie hier nach Aktenlage - nicht der Fall, fehlt es den Antragstellern an bereiten Mitteln, die zu einem Leistungsanspruch gegen die Antragsgegnerin führen. "Fiktives" Einkommen aus nur möglichen Zahlungen des Herrn J kann die Antragsgegnerin den Antragstellern keinesfalls entgegenhalten. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die Antragsteller, insbesondere die Antragstellerin als Schwester des Herrn J, einen zivilrechtlichen Anspruch gegen den Verpflichtungsgeber etwa auf Unterhaltszahlungen hätten, welcher zudem - Stichwort: bereites Mittel - auch leicht realisierbar sein müsste. Aus der öffentlich-rechtlichen Vorschrift des § 68 AufenthG resultiert ein solcher Anspruch jedenfalls nicht, und nach § 1601 BGB trifft eine Unterhaltspflicht nur Verwandte in gerader Linie.

bb) Ferner haben die Antragsteller hinsichtlich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts seit Antragstellung bei dem Sozialgericht auch einen Anordnungsgrund, d.h. eine gegenwärtige Notlage, glaubhaft gemacht, weil ihr Anspruch auf Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) nicht gewährleistet ist. [...]

c) Die Beschwerde der Antragsteller ist jedoch unbegründet, soweit sie gegenüber der Antragsgegnerin auch die Übernahme von Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 35 SGB XII) begehren, weil es insoweit an einem Anordnungsgrund fehlt. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats liegt ein Anordnungsgrund in einem auf die Gewährung von Leistungen für die Unterkunft gerichteten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erst dann vor, wenn eine Räumungsklage anhängig ist und der Antragsteller deshalb konkret von Wohnungslosigkeit bedroht ist. Der hiervon abweichenden Rechtsprechung des 6. und 7. Senats des LSG NRW folgt der Senat nicht (vgl. nur die Beschlüsse des Senats vom 20.09.2012 - L 9 SO 333/12 B ER -, juris Rn. 2, vom 07.08.2013 - L 9 SO 307/13 B ER, L 9 SO 308/13 B -, juris Rn. 25, vom 25.05.2016 - L 9 SO 210/16 B ER -, juris Rn. 11 und vom 22.06.2016 - L 9 SO 261/16 B ER, L 9 SO 262/16 B - n.v.). Nach den eigenen Angaben der Antragsteller liegen zwar Mietrückstände vor, aber weder eine Kündigung oder gar anhängige Räumungsklage ihres Vermieters. [...]