VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 27.04.2017 - 6 K 338/17.A (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 280 f.) - asyl.net: M25164
https://www.asyl.net/rsdb/M25164
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine trans- und bisexuelle Person aus der Russischen Föderation, die sich gegen die Diskriminierung von LGBTI-Personen eingesetzt hat, da sie nicht mit Schutz durch staatliche Organe vor Angriffen und Anfeindungen im sozialen Umfeld rechnen kann.

Keine Asylberechtigung nach dem GG, da keine staatlichen oder dem Staat zurechenbaren Verfolgunggsmaßnahmen vorliegen (unter Bezug auf VG Potsdam, Urteil vom 27.02.2014 - 6 K 435/13.A - asyl.net: M21779).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, Transsexuelle, homosexuell, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 1, AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4 Bst. a, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 3, AsylG § 3c, AsylG § 3d, AsylG § 3e, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asyl. Nach der einschlägigen überkommenen Rechtsprechung (vgl. zusammenfassend z.B. BVerfG, Beschluss vom 12. Februar 2008 - 2 BvR 2141/06 -, NVwZ-RR 2008, 643 Rn. 20 ff.) umfasst dies u.a. nur zielgerichtete staatliche oder dem Staat zurechenbare Verfolgungsmaßnahmen. An derlei staatlichen Verfolgungsmaßnahmen fehlt es im vorliegenden Fall. [...]

Abgesehen hiervon gibt es in Ansehung aller klägerseits und durch das Gericht ins Verfahren eingeführten Unterlagen zur Situation von LGBT-Menschen keine Hinweise auf eine gezielte staatliche Verfolgung Homo-, Trans- oder Bisexueller in der Russischen Föderation (vgl. bereits VG Potsdam, Urteil [Einzelrichter] vom 27. Februar 2014 - VG 6 K 435/13.A -, juris). [...]

Die Klägerin ist Flüchtling, da sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb ihres Herkunftslandes befindet und dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen kann bzw. wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 AsylG). Ihre Furcht, wegen ihrer sexuellen Orientierung in der Russischen Föderation menschenrechtswidrigen Bedrohungen ausgesetzt zu sein, ist begründet, da ihr diese Bedrohungen aufgrund der in ihrem Herkunftsland gegebenen Umstände und in Anbetracht ihrer individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen.

In der Person der Klägerin liegt ein Verfolgungsgrund i.S.v. §§ 3 Abs. 1, 3b AsylG vor, da die Klägerin transsexuell ist, was auch das Bundesamt ausweislich der Bescheidgründe nicht in Abrede stellt. Die Klägerin hat im Gegensatz zu ihrer äußeren Geschlechtlichkeit den offenbar seit Kindheit bestehenden Wunsch, als Angehöriger des männlichen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden. [...]

Homosexuelle - wie auch transsexuelle - Menschen gehören in der Russischen Föderation zu einer sozialen Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, was das Bundesamt ebenfalls nicht in Abrede stellt. Die sexuelle Ausrichtung einer Person stellt ein Merkmal dar, das im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG so bedeutsam für die Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden darf, auf sie zu verzichten. Es kann auch nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland geheim gehalten oder Zurückhaltung beim Ausleben der sexuellen Ausrichtung geübt wird, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden, wenn es zur selbstverstandenen Identität der betroffenen Person gehört, die eigene Sexualität zu leben (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - Rs. C-199/12 u.a. -, juris). [...]

Die Personengruppe der LGBT-Menschen besitzt in der Russischen Föderation ausweislich der klägerseits angesprochenen und der gerichtlicherseits ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in der Russischen Föderation eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG). [...]

Die Klägerin ist bereits vor ihrer Ausreise wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt worden, wie zuvor ausgeführt. Abgesehen von der Isolierung innerhalb der Familie und der inzwischen offenbar vollzogenen Scheidung vom Ehemann, den sie (lediglich) zum Zweck eines Auszugs aus der gemeinschaftlichen elterlichen Wohnung geheiratet und der sie als Transvestitin betrachtet habe, war sie vergewaltigt, im Alltag gemobbt, im Internet beleidigt sowie bedroht und zuletzt im September 2016 aus homophoben Gründen verprügelt worden, woran das Gericht in tatsächlicher Hinsicht keinen Zweifel hegt.

Wirksamer staatlicher Schutz steht der Klägerin bei Rückkehr nicht zur Verfügung. [...]

Das Gericht geht unter Zugrundelegen aller ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse zur Situation in der Russischen Föderation nicht von in diesem Sinne wirksamen staatlichen Sanktionen gegen Verfolgungshandlungen bei Personen aus, die sich gegen sexuelle Minderheiten in der spezifischen Lage der Klägerin richten. Zwar hatte die Klägerin die von ihr vorgetragene Vergewaltigung nicht zur Anzeige gebracht, so dass sie sich insofern eine fehlende Strafverfolgung selbst zurechnen lassen muss. Auch hatten die Polizisten der Klägerin im September 2016 durchaus eine Bestrafung der Täter jener Prügelattacke in Aussicht gestellt. Freilich ist die spezifische Lage der Klägerin zusätzlich dadurch gekennzeichnet, dass sie als Aktivistin der von ihr in der mündlichen Verhandlung genannten Organisation auch namentlich bekannt war und ist, so dass sie nicht lediglich in ihrem Wohnviertel und bei der Arbeitsstelle als bekennende LGBT-Aktivistin auffällig war. Die ins Verfahren eingeführten Erkenntnisse belegen aber, dass die russischen Strafvorschriften gegen "Verbreitung homosexueller Propaganda gegenüber Minderjährigen" (vgl. Lagebericht a.a.O) durchaus eine Gleichgültigkeit des russischen Staates gegenüber der gesellschaftlichen Homophobie zum Ausdruck bringen, was auch durch vergleichsweise milde Strafen bei Übergriffen gegenüber LGBT-Menschen zum Ausdruck kommt (vgl. der klägerseits vorgelegte Bericht von Yashenkova u.a. von 2016 "Transgender Legal Defense Report", S. 37 ff.).

Mit Blick auf das einem Bekenntnis zur eigenen sexuellen Orientierung entsprechende äußere Auftreten der Klägerin, das die von ihr während der mündlichen Verhandlung vorgezeigten einschlägigen Armbänder, ihre "Unisexkleidung" sowie ihre Frisur (kurze Haartracht) umfasst, ist von einer bis zur Ausreise andauernden beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit auszugehen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Klägerin nach dem Eindruck des Gerichts besonders "männlich" wirkt. Der Vorfall im September 2016 war daher in Ansehung des bisherigen Lebenslaufs der Klägerin wohl "der letzte Tropfen, welcher das Fass zum Überlaufen gebracht hat", da die Klägerin nunmehr in ihrer heimatlichen Umgebung jederzeit mit neuerlichen Attacken rechnen musste, was ihr die Polizisten sogar für den Fall von Ermittlungen gegen die Täter in Aussicht gestellt hatten. Daher geht das Gericht von einer Vorverfolgung der Klägerin durch Dritte und davon aus, dass sie weiterhin unmittelbar von Verfolgungshandlungen bedroht war. Dies stellt i.S.v. Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass ihre Furcht vor Verfolgung auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über ihren Antrag (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 1. Hs. AsylG sowie Art. 4 Abs. 3 lit. a der Qualifikationsrichtlinie) weiterhin begründet ist (vgl. zum Maßstab: BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2009 - 10 C 52.07 -, juris, Rn. 29). Stichhaltige Gründe, die gegen eine erneute Verfolgung der Klägerin bei Rückkehr sprechen (Art. 4 Abs. 4 a.E. der Qualifikationsrichtlinie), liegen nicht zu Tage. [...]

Die hier bei zusammenschauender Bewertung aller erkennbaren Umstände zu berücksichtigenden allgemeinen Gegebenheiten und persönlichen Umstände der Klägerin ergeben, dass vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, dass sie sich woanders in der Russischen Föderation niederlässt. Die Klägerin wäre überall gleichermaßen schon äußerlich als Teil der sozialen Gruppe, als deren Mitglied sie Verfolgung erlitten hat, erkennbar und wegen ihres Engagements in ihrer Organisation zudem namentlich zuzuordnen. Hinzu tritt die innere Verzweiflung, welche ihr das Gericht nach dem Auftreten während der mündlichen Verhandlung abnimmt, weshalb das Gericht überzeugt ist, dass die Klägerin nicht dazu in der Lage wäre, selbstbewusst etwaigen Anfeindungen schon bei den Niederlassungsformalitäten entgegen zu treten. [...]