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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 31.05.2017 - 10 L 89/17.A - asyl.net: M25159
https://www.asyl.net/rsdb/M25159
Leitsatz:

Eine fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung löst keine einjährige Klagefrist aus, wenn ausgeschlossen ist, dass sie die die Ursache für die Fristversäumnis war.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Fristversäumnis, Asylverfahren, Rechtsmittelbelehrung, Zustellung, Mitwirkungspflicht, Kausalität, Jahresfrist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Fristversäumnis, Klagefrist
Normen: AsylG § 10 Abs. 2 S. 1, AsylG § 10 Abs. 2 S. 4, VwGO § 58 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

b) § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO findet jedoch dann keine Anwendung, wenn der Betroffene den angefochtenen Bescheid - wie hier - nachweislich erst nach Ablauf der gesetzlichen Rechtsbehelfsfrist erhalten hat. Diese endete mit Ablauf des 16. Dezember 2016 (s.o. 1.). Den angefochtenen Bescheid erhielt der Antragsteller aber erst am 12. Januar 2017. Dies ergibt sich aus dem von ihm im vorliegenden Verfahren vorgelegten Ausdruck einer E-Mail des Kreises I1. vom 12. Januar 2017.

Zwar bedarf es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 1966 - 5 C 10.65 -, BVerwGE 25, 191 (juris Rn. 19), vom 15. Dezember 1988 - 5 C 9.85 -, BVerwGE 81, 81 (juris Rn. 15), sowie vom 30. April 2009 - 3 C 23.08 -, BVerwGE 134, 41, Rn. 17), die im Schrifttum einhellig geteilt wird (vgl. Czybulka/Kluckert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Auflage 2014, § 58 Rn. 5; Kimmel, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Auflage 2014, § 58 Rn. 1; Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Band I, § 58 Rn. 55 und 64 (Stand: April 2013); M. Redeker, in: Redeker/v.Oertzen, VwGO, 16. Auflage 2014, § 58 Rn. 15a; J. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Auflage 2010, § 58 Rn. 12) keines Nachweises im konkreten Einzelfall, dass die Nichteinlegung eines Rechtsbehelfs durch die fehlende oder unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung verursacht worden ist. Dem schließt sich das Gericht an, soweit damit die nähere Prüfung, ob der Adressat der Rechtsbehelfsbelehrung im konkreten Einzelfall durch die fehlende oder unrichtige Belehrung oder durch andere Umstände von der (rechtzeitigen) Einlegung eines Rechtsbehelfs abgehalten wurde, ausgeschlossen wird. Dies ist schon aufgrund praktischer Erwägungen geboten, weil es sich bei dem entsprechenden Willensbildungsprozess um einen subjektiven Umstand handelt, dessen Nachweis regelmäßig auf praktische Schwierigkeiten stößt.

Etwas anderes muss jedoch dann gelten, wenn es aufgrund der Umstände des Einzelfalls schlechthin ausgeschlossen ist, dass die fehlende oder unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung ihren Adressaten von der (rechtzeitigen) Einlegung eines Rechtsbehelfs abgehalten hat. Dies folgt aus Sinn und Zweck des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Diese Norm dient dem Schutz der Rechtssuchenden und soll gewährleisten, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht aus Rechtsunkenntnis unterbleibt (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 1999 - 6 C 31.98 -, BVerwGE 109, 336 (juris Rn. 19), sowie Beschlüsse vom 12. April 2005 - 9 VR 41.04 -, NVwZ 2005, 943 (juris Rn. 20), und vom 4. Mai 2016 - 9 B 11.16 -, juris Rn. 6; Kimmel, in: Posser/Wolff, VwGO, 2. Auflage 2014, § 58 Rn. 1; Meissner/Schenk, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Band I, § 58 Rn. 10 (Stand: April 2013)).

Folglich werden Fälle, in denen auszuschließen ist, dass die unterbliebene Einlegung eines Rechtsbehelfs auf einer fehlenden oder unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung beruht, nicht vom "Schutzbereich" des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO erfasst. Dem ist durch eine entsprechende einschränkende Auslegung dieser Norm Rechnung zu tragen.

Der Gedanke der Rechtsmittelklarheit (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. April 2009 - 3 C 23.08 -, BVerwGE 134, 41, Rn. 17) steht einer einschränkenden Auslegung des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht entgegen. Für das Gericht ist schon nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber diesem Gesichtspunkt bei Erlass des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO nennenswertes Gewicht beigemessen hat (vgl. BT-Drucks. 3/55, S. 36 (zu § 61 des Entwurfs)).

Im Übrigen hat der Gedanke der Rechtsmittelklarheit hinter der Vermeidung einer nicht vom Normzweck gedeckten Überdehnung des Anwendungsbereichs des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO zurückzustehen, zumal sich in Anbetracht der durch § 60 Abs. 1 VwGO eröffneten Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, ohnehin nicht durch einen Blick auf die Rechtsbehelfsbelehrung abschließend klären lässt, ob ein Rechtsbehelf unzulässig und ein Bescheid bzw. eine gerichtliche Entscheidung infolgedessen in Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsen ist.

Dass die unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung ihren Adressaten von der Einlegung des Rechtsbehelfs abgehalten hat, ist nicht nur dann schlechthin ausgeschlossen, wenn die Unrichtigkeit wie bei der Angabe einer längeren als der tatsächlich für die Einlegung des Rechtsbehelfs geltenden Frist ungeeignet ist, den Adressaten in seiner Entscheidung, ob er den Rechtsbehelf (rechtzeitig) einlegt, zu beeinflussen (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Juni 1958 - 7 CB 207.57 -, Verwaltungsrechtsprechung 11, 237, 239 (zu § 32 des Bayerischen Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit), und vom 10. November 1966 - 2 C 99.64 -, NJW 1967, 591, 592; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. September 2012 - OVG 3 N 171/12 -, juris Rn. 2; VG Minden, Beschluss vom 7. November 2016 - 10 L 1597/16.A -, juris Rn. 18).

Dasselbe gilt auch dann, wenn der Adressat eines belastenden Verwaltungsakts diesen und die ihm beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung nachweislich erst nach Ablauf der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs erhält. Auch in diesem Fall ist es nicht möglich, dass die (rechtzeitige) Einlegung des Rechtsbehelfs aufgrund der irreführenden Belehrung unterblieben ist. Dies beruht im vorliegenden Fall vielmehr darauf, dass der Antragsteller es entgegen § 10 Abs. 1 AsylG versäumt hat, dem Bundesamt seine neue Adresse mitzuteilen. [...]