VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 29.03.2017 - 1 A 2464/15 - asyl.net: M24937
https://www.asyl.net/rsdb/M24937
Leitsatz:

1. Der Tod des Stammberechtigten stellt einen Fall des "Erlöschens" seiner Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG dar und rechtfertigt bei Vorliegen der sonstigen dort genannten Voraussetzungen den Widerruf des abgeleiteten Familienflüchtlingsschutzes (Anschluss an OVG Saarland, Urt. v. 18.9.2014, 2 A 231/14).

2. Bei dem Widerruf der zuerkannten Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG handelt es sich auch nach einer zuvor durchgeführten Regelüberprüfung gemäß § 73 Abs. 2a AsylG - nach der kein Widerruf erfolgt ist - um eine gebundene Entscheidung. Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG findet insoweit keine analoge Anwendung.

3. Es ist derzeit für eine Zivilperson in der Provinz Herat nicht beachtlich wahrscheinlich, infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts verletzt oder getötet zu werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Familienflüchtlingsschutz, Erlöschen, Widerruf, Tod des Stammberechtigten, Afghanistan, Herat, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, willkürliche Gewalt, subsidiärer Schutz, Straftat,
Normen: AsylG § 26 Abs. 5, AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 73 Abs. 2a, AsylG § 72 Abs. 2b
Auszüge:

[...]

Die Flüchtlingseigenschaft des Vaters des Klägers ist mit dessen Tod am 27. November 2010 im Sinne von § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG erloschen. Der Tod eines Asylberechtigten bzw. eines Flüchtlings hat auch rechtlich ein Erlöschen seiner höchstpersönlichen Berechtigung zur Folge (so für die Asylberechtigung auch OVG Saarland, Urt. v. 2.9.2014, 2 A 231/14, juris Rn. 21 f.; VG Arnsberg, Urt. v. 5.2.2016, 3 K 2897/14.A, juris). Da ein Toter nicht politisch verfolgt werden und daher nicht mehr asylberechtigt sein kann, erlischt mit dem Leben zwangsläufig auch diese Berechtigung. Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass der Fall des Erlöschens durch Tod in § 72 AsylG ("Erlöschen") nicht explizit geregelt ist (a.A. VG Schleswig, Urt. v. 10.8.2009, 15 A 173/08, juris Rn. 18 f.). Für eine gesonderte gesetzliche Regelung dieser Selbstverständlichkeit besteht, anders als bei den ohne Ausnahme an das Verhalten des Stammberechtigten anknüpfenden Tatbeständen des Erlöschens nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 AsylG, weder Anlass noch Bedürfnis. Insoweit bedeuten diese gesetzlichen Tatbestände des Erlöschens keine abschließende Regelung. Ihnen kann daher nicht gewissermaßen im Umkehrschluss eine zwingende Bestimmung dahingehend entnommen werden, dass außer in den in § 72 Abs. 1 AsylG genannten Fällen – nicht einmal beim Tod eines politisch Verfolgten – kein Erlöschen der höchstpersönlichen Berechtigung angenommen werden könnte. [...]

Liegen bei dem Familienangehörigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund von eigener drohender Verfolgung vor, kommt der Widerruf des Familienflüchtlingsschutzes nach dem klaren Wortlaut des § 73 Abs. 2b Satz 3 a.E. AsylG nicht in Betracht. Der Gesetzgeber trägt damit insbesondere auch dem Umstand Rechnung, dass im Ausgangsverfahren eine eigenständige Prüfung der Verfolgungssituation des Angehörigen aus Gründen der Verfahrenserleichterung nicht erfolgt ist. Wäre hingegen Familienangehörigen eines verstorbenen Stammberechtigten völlig unabhängig von einer eigenen Verfolgungsgefahr dauerhaft Flüchtlingsschutz zu gewähren, würden diese gegenüber anderen Flüchtlingen ungerechtfertigt besser gestellt (vgl. OVG Saarland, Urt. v. 18.9.2014, 2 A 231/14, juris Rn. 24; VG Arnsberg, Urt. v. 5.2.2016, 3 K 2897/14.A, juris). Da gegenüber dem verstorbenen Stammberechtigten ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG wegen eines Wegfalls der Verfolgungsgefahr nicht mehr in Betracht kommt, würde der abgeleitet Berechtigte im Sinne einer "Ewigkeitsgarantie" eine Position "erben", die der Stammberechtigte selbst nicht hatte. [...]

Für die rechtliche Beurteilung der Widerrufsentscheidung der Beklagten ist die aufenthaltsrechtliche Situation des betroffenen Ausländers aber nicht von Belang. Im Rahmen der vorzunehmenden Einzelfallprüfung durch die Ausländerbehörde können auch zwingende rechtliche Ausreisehindernisse im Sinne der §§ 25 Abs. 5, 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 8 Abs. 1 EMRK in Erwägung zu ziehen und etwaige Integrationserfolge des Ausländers zu berücksichtigen sein. Der Widerruf der Berechtigung in den Fällen des Todes des Stammberechtigten widerspricht daher auch nicht integrationspolitischen Zwecksetzungen (a.A. GK-AsylG, Stand: Januar 2014, § 73 Rn. 42; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 73 AsylG, Rn. 42; wohl auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Dezember 2016, § 73 AsylG, Rn. 80). [...]

Soweit der Kläger vorträgt, dass ihm Verfolgung aufgrund seiner Familienzugehörigkeit drohe, ist darin jedenfalls keine Anknüpfung an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu sehen. [...]

Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Familie des Klägers von der sie umgebenden Gesellschaft aufgrund des (privaten) Konflikts mit dem Taliban-Kommandanten nicht als "andersartig" wahrgenommen wird (vgl. auch zur Familie als bestimmte soziale Gruppe VG Düsseldorf, Beschl. v. 15.3.2016, 17 L 316/16.A, juris Rn. 9 ff. m.w.N.; VG München, Urt. v. 15.6.2015, M 12 K 14.30589, juris Rn. 27; VG Bayreuth, Urt. v. 1.4.2015, B 3 K 14.30472, juris Rn. 27). [...]

Der Bescheid ist nicht aufgrund fehlender Ermessensausübung der Beklagten rechtswidrig. Der Widerruf nach § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG stellt aufgrund des eindeutigen Wortlauts ("ist zu widerrufen") eine gebundene Entscheidung dar. Die Vorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG, wonach in den Fällen, in denen – wie hier – nach der Regelüberprüfung gemäß § 73 Abs. 2a AsylG ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt ist, eine spätere Entscheidung im Ermessen der Beklagten steht, bezieht sich nach ihrem klaren Wortlaut nur auf Entscheidungen nach § 73 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG und ist im Fall des Widerrufs gemäß § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG nicht analog anzuwenden (vgl. VG Darmstadt, Urt. v. 19.12.2007, 9 E 687/06.A, juris Rn. 27; so im Ergebnis auch VG Düsseldorf, Urt. v. 26.9.2012, 27 K 7338/10.A, juris Rn. 73; VG Hamburg, Urt. v. 15.2.2008, 11 A 841/06). Es fehlt insoweit an der erforderlichen planwidrigen Regelungslücke. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Gesetzgeber die Fälle des Widerrufs des Flüchtlingsschutzes der originär Berechtigten gemäß § 73 Abs. 1 AsylG und des Widerrufs des Flüchtlingsschutzes der Personen, die ihren Status von einem Stammberechtigten ableiten gemäß § 73 Abs. 2b AsylG hinsichtlich der Umwandlung der gebundenen in eine Ermessensentscheidung nach einer einmal durchgeführten negativen Regelüberprüfung im Sinne des § 73 Abs. 2a AsylG bewusst unterschiedlich geregelt hat. [...]

Bei der Provinz Herat handelt es sich um eine der sichereren Regionen Afghanistans. [...]

Es liegen auch keine Umstände vor, die für den Kläger die allgemeine Gefahr, ziviles Opfer eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Provinz Herat zu werden, erhöhen könnten. Er gehört keiner Berufsgruppe an, die in besonderem Maße der Gefahr ausgesetzt wäre, Opfer von sicherheitsrelevanten Vorfällen zu werden. [...]

3. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, dessen Vorliegen gemäß § 73 Abs. 3 AsylG zu prüfen ist. Es sind weder die Voraussetzungen des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG (dazu a.), noch des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (dazu b.) gegeben. [...]

Er ist mit 21 Jahren in einem arbeitsfähigen Alter und hat keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen geltend gemacht. Es ist daher unschädlich, dass der Kläger nach eigenen Angaben in Afghanistan keinen familiären oder sonstigen sozialen Rückhalt mehr hat. Dafür, dass der Kläger mit den Lebensverhältnissen in seinem Heimatland nicht mehr vertraut ist bzw. sich nicht in diese wieder einfinden könnte, gibt es keine Anhaltspunkte. [...]