VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 20.02.2017 - 4 A 5375/16 (ASYLMAGAZIN 5/2017, S. 188) - asyl.net: M24872
https://www.asyl.net/rsdb/M24872
Leitsatz:

1. Auch wenn die Gefahrenlage in Afghanistan nicht so extrem ist, dass sich alleinstehende, junge, volljährige und gesunde Männer grundsätzlich auf Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG berufen können, kann im Einzelfall dennoch eine extreme Gefahrenlage gegeben sein.

2. Da der Betroffene weder nennenswertes Vermögen noch irgendwelche Fähigkeiten oder Fertigkeiten zur Lebensunterhaltssicherung besitzt und nicht über einen stabilen und aufnahmefähigen Familienverbund in Afghanistan verfügt, besteht die Gefahr, dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage wäre, sein Existenzminimum zu sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzgrundlage, Abschiebungsverbot, alleinstehender Mann, extreme Gefahrenlage, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Das Gericht konnte nicht die Überzeugung gewinnen, dass der Kläger von den Taliban wegen der oben genannten Merkmale gezielt verfolgt wurde oder bei seiner Rückkehr verfolgt werden wird. Die bloße Mitteilung seiner Mutter, man erzähle sich in Kunduz, dass Taliban auch weiterhin junge Männer verschleppen, genügt hierfür nicht. Sie beruht auf bloßem Hörensagen und hat keinen greifbaren Bezug zum Kläger. [...]

In der Provinz Kunduz, aus der der Kläger stammt und auf die deshalb insoweit abzustellen ist, besteht für ihn nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die erhebliche Gefahr, als Zivilperson Opfer einer bewaffneten Auseinandersetzung zu werden. Der für § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erforderliche hohe Gefahrengrad kann auch insoweit nicht festgestellt werden. Das Gericht macht sich insoweit die Ausführungen des OVG Lüneburg (Beschl. v. 3.2.2015, OVG 9 LA 266/13, juris) zu eigen (ebenso Kammer 10, Urt. v. 25.5.2016, 10 A 6551/15): [...]

Dabei können sich im Grundsatz alleinstehende, junge, volljährige und gesunde Männer nicht auf Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AsylG berufen. Denn aus der aktuellen Berichtslage ergibt sich nicht, dass die Durchführung der Abschiebung nach Afghanistan wegen einer extremen Gefahrenlage in Afghanistan Verfassungsrecht verletzen würde, so dass ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.6.2010, 10 C 10.09, juris Rn. 12 und 14) zuzusprechen wäre. [...]

Vorliegend ist jedoch im Wege einer Gesamtgefahrenschau - auch unter Berücksichtigung der schlechten Versorgungslage in Afghanistan - nicht anzunehmen, dass dem Kläger bei seiner Rückführung alsbald der sichere Tod drohen würde oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten wären. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass sich der Kläger bei seiner Rückkehr in eine Großstadt wie Kabul, Herat oder Masar-e Sharif durch Arbeit einen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums wird erwirtschaften können. [...]

Vorliegend ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bei dem Kläger nicht davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage wäre, in Kabul oder einer anderen unter Regierungskontrolle stehenden Großstadt durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Arbeitseinkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren. Einen stabilen und aufnahmefähigen Familienverbund in Afghanistan hat der Kläger nicht. Wo sich seine Mutter und sein jüngerer Bruder aufhalten, weiß der Kläger nicht. Wenn sie sich noch in Afghanistan aufhalten, dürften sie sich weiterhin bei einem Cousin der Mutter in Kunduz aufhalten, wie das bei dem letzten telefonischen Kontakt mit ihr während der Flucht des Klägers der Fall war. Dass dieser Cousin auch zur Aufnahme des Klägers bereit und in der Lage wäre, ist nicht zu erkennen. Ein Bruder des Klägers ist bereits seit Jahren verschollen. Der älteste Bruder des Klägers ist bei der Armee, seine Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit konnte nicht festgestellt werden. Kontakte zu ihm bestehen seitens des Klägers seit Jahren nicht mehr. Der auf sich allein gestellte Kläger könnte für sein Auskommen nicht sorgen. Er ist in Afghanistan bis zu seiner gemeinsamen Flucht mit einem Onkel nur zur Schule gegangen. Für seinen eigenen Unterhalt musste er weder in Afghanistan noch während der Flucht sorgen. Auch in Deutschland hat er bislang nicht gearbeitet, sondern ist nur zur Schule gegangen. Irgendwelche Fähigkeiten oder Fertigkeiten, mit denen er sich auf dem afghanischen Arbeitsmarkt unter den zahllosen Bewerbern um vor allem einfache Helfertätigkeiten durchsetzen könnte, hat der Kläger sich bisher erkennbar nicht aneignen können. Er wirkte auch in der mündlichen Verhandlung deutlich unfertig in lebenspraktischen Dingen. [...]