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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 14.12.2016 - A 2 K 1026/16 - asyl.net: M24863
https://www.asyl.net/rsdb/M24863
Leitsatz:

1. Eine Frau, der in Gambia aufgrund "ehebrecherischen Verhaltens" Verfolgung durch Familienmitglieder droht, erfüllt die Flüchtlingseigenschaft.

2. Es ist erwiesen, dass der gambische Staat nicht in der Lage ist, Schutz vor Bedrohungen durch die Familie zu bieten.

3. Bei Verfolgung durch die Familie besteht in Gambia auch kein interner Schutz, da Personen, die dorthin abgeschoben werden, von den Einwanderungsbehörden an ihre Familie übergeben werden. Zudem gibt es für eine alleinerziehende Frau ohne Unterstützung ihrer Familie in Gambia keine zumutbare Fluchtalternative.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Gambia, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, nichteheliches Kind, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Diskriminierung, interne Fluchtalternative, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingseigenschaft, alleinstehende Frauen, außereheliche Beziehung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat mit der Schilderung ihres Schicksals glaubhaft gemacht, dass ihr für den Fall ihrer Rückkehr nach Gambia eine Gefahr für Leib und Leben droht. Dabei handelt es sich um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG, denn die Klägerin muss befürchten, wegen ihres von ihrem Vater als "ehebrecherisch" eingestuften Verhaltens in Form der Beziehung zu einem anderen Mann bei zumindest nach den örtlichen Regeln bestehender Ehe an Leib oder Leben bedroht zu sein (vgl. Keßler in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 3a Rn. 19 m.w.N.). Auf Grundlage der im muslimischen Kulturkreis der Klägerin und ihres Vaters bei Familienangelegenheiten zur Anwendung kommenden Schari'ah (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich [BFA], Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Gambia, 27.05.2015, S. 15 m.w.N.) hat die Klägerin dadurch, dass sie mit einem anderen als ihrem zwangsweise zugewiesenen Mann Geschlechtsverkehr hatte und von diesem zudem ein Kind erwartete, geschlechtsspezifische Regeln verletzt und die Ehre der Familie beschmutzt, mit der Folge, dass sie eine schwere Bestrafung, potentiell auch die Tötung, zu erwarten hat (zur Benachteiligung von Frauen im Geltungsbereich der Schari'ah vgl. auch Schirrmacher, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte [IGFM], Frauen unter der Scharia: Strafrecht und Familienrecht im Islam, www.igfm.de). Der geschlechtsspezifische Charakter der Verfolgung ergibt sich dabei vorliegend daraus, dass es zu dem von der Familie als regelwidrig angesehenen und zu sanktionierenden Verhalten der Klägerin nur kommen konnte, weil sie vom Vater zwangsverheiratet wurde, obwohl bereits eine Beziehung zu einem anderen Mann bestand. Zwangsverheiratungen als besondere Form der Diskriminierung treffen dabei allgemein lediglich Frauen. [...]

Die Bedrohung durch ihren Vater stellt auch eine den Anforderungen des § 3c Nr. 3 AsylG entsprechende Verfolgung durch einen nichtstaatlichen Akteur dar. Als Verfolger in diesem Sinne kommen auch Familienmitglieder in Betracht (Möller in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 3c AsylG Rn. 7). Auch ist es erwiesen, dass der gambische Staat nicht in der Lage ist, Schutz vor der Bedrohung durch die Familie zu bieten. Der gambische Staat, insbesondere die gambische Justiz, dulden die Anwendung der Schari'ah und diskriminieren Frauen (vgl. BFA, a.a.O.). Aktuelle Quellen zur rechtsstaatliche Situation im ländlichen Raum Gambias in Bezug auf die Anwendung der Schari'ah und zur dortigen Sicherheitslage liegen zwar nicht vor. Im Jahr 2010 stellte das Auswärtige Amt jedoch bereits fest, dass Polizei und Staatsanwaltschaft Konflikte, die auf Zwangsverheiratungen beruhen, als private und innerfamiliäre Probleme betrachtet und ein Einschreiten insoweit zumeist verweigern (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 81). Angesichts der Ausrufung eines islamischen Staates durch den damaligen und faktisch noch amtierenden Präsidenten Gambias Jammeh im Dezember 2015 ist nicht davon auszugehen, dass sich die Bereitschaft staatlicher Organe zum Vorgehen gegen vermeintlich auf islamisch-religiöser Grundlage gerechtfertigtes Verhalten erhöht hat. Dabei ist auch zu sehen, dass sowohl die Gerichte als auch die Sicherheitskräfte in Gambia grundsätzlich weitgehend ineffizient und korrupt sind, eine Rechtsstaatlichkeit damit lediglich formal gesichert ist und häufig formal strafbares Verhalten straffrei bleibt (U.S. Department of State, The Gambia 2015 Human Rights Report, S. 5, BFA, a.a.O., S. 7 f. m.w.N.).

Schließlich ist auch nicht zu erkennen, dass die Klägerin in Gambia internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG finden könnte. Hiergegen spricht bereits, dass abgeschobene Personen von der Einwanderungsbehörde in Empfang genommen und danach den Familien, von denen vorliegend gerade die Bedrohung ausgeht, übergeben werden (vgl. BFA, a.a.O., S. 19). Zudem ist nicht ersichtlich, wie eine unverheiratete Frau mit zwischenzeitlich zwei unehelichen Kindern ohne familiäre Unterstützung in Gambia auf zumutbare Weise Zuflucht finden soll. [...]