VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 05.01.2017 - 18 K 2043/15.A - asyl.net: M24853
https://www.asyl.net/rsdb/M24853
Leitsatz:

1. In Afghanistan fehlt es für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara an der für eine Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte (mit Verweis auf BayVGH, Beschluss vom 1.12.2015 - 13a ZB 15.30224, asyl.net: M24895).

2. Auch im Hinblick auf die Gefahr einer landesweiten Zwangsrekrutierung junger wehrfähiger Männer fehlt es an der erforderlichen Verfolgungsdichte (mit Verweis auf OVG NRW, Beschluss vom 18.8.2016 - 13 A 1642/16.A, asyl.net: M24896).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Hazara, Afghanistan, Zwangsrekrutierung, Familie, Sicherheitslage, Versorgungslage, Kabul, gefahrerhöhende Umstände, Flüchtlingsanerkennung, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Wehrdienstverweigerung, Iran, Pakistan,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

[...]

Diese Anforderungen zugrundegelegt, kann dem Vorbringen des Klägers weder mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit entnommen werden, dass er zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren vor seiner Ausreise aus Afghanistan aus asylrelevanten Gründen verfolgt worden ist, noch dass er bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von diesen verfolgt werden würde.

Dies gilt insbesondere für die Tatsache, dass der - als Kleinkind unverfolgt aus Afghanistan ausgereiste - Kläger zur Volksgruppe der Hazara gehört. Denn eine beachtliche Gefahr der Verfolgung lässt sich daraus nicht abzuleiten (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Februar 2013 - 13 A 1411/12.A -, juris, Rn. 25 ff. sowie BayVGH, Beschlüsse vom 25. Januar 2013 - 13a ZB 12.30153 -, juris, Rn. 7 f. und vom 1. Dezember 2015 - 13a ZB 15.30224 -, Rn. 4).

Auch der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes geht davon aus, dass sich die Lage der Hazara, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung etwa 10% beträgt, grundsätzlich verbessert hat.

Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand: September 2016), S. 9.

Soweit Einzelfälle von Entführungen oder ähnliche Übergriffe bekannt geworden sind, genügt dies mit Blick auf die für eine Gruppenverfolgung erforderliche kritische Verfolgungsdichte nicht für die Annahme einer drohenden asylrelevanten Verfolgung (OVG NRW, Beschluss vom 24. März 2016 - 13 A 2588/15.A -, S. 4 des Beschlussabdrucks (n.v.); vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 30. November 2016 - 5 K 16.31724 -, juris, Rn. 31 f. sowie VG Würzburg, Urteil vom 28. Oktober 2016 - W 1 K 16.31834 -, juris, Rn. 19).

Im Übrigen würde sich der Kläger aufgrund entsprechender familiärer Bezüge nach seiner Rückkehr voraussichtlich in Kabul aufhalten. Dort beträgt der Bevölkerungsanteil der Hazara etwa 25% (vgl. de.wikipedia.org/wiki/Kabul).

Auch aus der geltend gemachten Gefahr einer Zwangsrekrutierung kann der Kläger unter dem Gesichtspunkt einer etwaigen Gruppenverfolgung keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft herleiten. Ungeachtet der Frage, ob es sich bei jungen wehrfähigen Männern um eine bestimmte soziale Gruppe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG handelt ((wohl) dagegen: VG Augsburg, Urteil vom 5. Dezember 2016 - Au 5 K 16.31757 -, juris, Rn. 33; dies (wohl) zumindest für minderjährige männliche afghanische Staatsangehörige annehmend: OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2016 - 13 A 1642/16.A -, Rn. 5 ff.), hat der Kläger zunächst eine entsprechende Vorverfolgung nicht geltend gemacht. Eine solche ist aufgrund des Umstandes, dass er Afghanistan bereits als Kleinkind verlassen hat, auch ausgeschlossen. Eine Gefahr der Zwangsrekrutierung droht dem Kläger in einem rechtlich beachtlichen Maß aber auch nicht erstmals bei einer Rückkehr nach Afghanistan. Erforderlich wäre insoweit die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer alle Gruppenmitglieder erfassenden, gruppengerichteten Verfolgung. Dies setzte eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, die die Vermutung der Verfolgung jedes einzelnen Angehörigen der Gruppe rechtfertigt.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung in diesem Sinne lässt sich zunächst nicht dem (im Auftrag des Klägers erstellten) Schriftsatz an das Bundesamt vom 8. August 2014 ableiten. Das gilt schon deshalb, weil dort Quellen zitiert werden, in denen es lediglich heißt: "Bezüglich der Gefährdung zurückkehrender afghanischer Männer ist festzustellen, dass diese unter anderem aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer (vermeintlichen) politischen Ansichten auf internationalen Schutz angewiesen sein können. Dies hängt damit zusammen, dass Jungen und Männer im wehrfähigen Alter häufig als Kämpfer rekrutiert werden. …".

Auch sonstigen Erkenntnisquellen lässt sich eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr landesweiter Zwangsrekrutierung junger wehrfähiger Männer nicht entnehmen. Insoweit mangelt es jeweils an der erforderlichen Verfolgungsdichte.

Mit gleichem Ergebnis jedenfalls für die Gruppe minderjähriger männlicher Staatsangehöriger, wohl aber auch junger erwachsener männlicher afghanischer Staatsangehöriger: OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2016 - 13 A 1642/16.A -, Rn. 8 ff., 14, 22.

Nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes etwa seien Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden zwar nicht auszuschließen. Jedoch erscheine die Notwendigkeit für Zwangsrekrutierungen eher unwahrscheinlich, weil die Tätigkeit als Soldat oder Polizist für den großen Teil der jungen männlichen Bevölkerung eine der wenigen Verdienstmöglichkeiten darstelle (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand: September 2016), S. 9).

Auch aus dem neuesten Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe ergibt sich eine für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung erforderliche Verfolgungsdichte nicht. Hier ist - ohne Angabe weiterer Details oder Quantifizierungen - (lediglich) die Rede davon, dass sowohl regierungsfeindliche wie auch regierungsfreundliche Gruppierungen junge Männer zwangsrekrutieren sollen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, vom 30. September 2016, S. 21).

Für den Kläger kommt hinzu, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Zwangsrekrutierung durch seinen voraussichtlichen künftigen Aufenthaltsort in Afghanistan weiter minimiert. Aufgrund seiner ausschließlich in Kabul vorhandenen familiären Verbindungen - dort halten sich seine Eltern und Geschwister auf - ist anzunehmen, dass sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nach Kabul gegeben wird. Für diesen Ort sind Hinweise auf Zwangsrekrutierungen nicht bekannt (vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 18. August 2016 - 13 A 1642/16.A -, Rn. 47 f.).

Weiterer Vortrag des Klägers, der an (potentielle) asylerhebliche Merkmale im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG anknüpft, ist nicht ersichtlich. Das gilt insbesondere, soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, es sei womöglich an seiner (Aus)Sprache erkennbar, dass er sich in Pakistan aufgehalten habe. Zum einen konnte der Dolmetscher eine entsprechende Färbung des Dari in der mündlichen Verhandlung nicht erkennen. Zum anderen ist - ungeachtet der Frage, ob vorübergehend in Pakistan gelebt habende Afghanen eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sind - nicht erkennbar, dass aus einer entsprechenden Sprachfärbung für den Kläger die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung resultiert. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass sich eine nicht unerhebliche Zahl von Afghanen für ebenfalls nicht unerhebliche Zeiträume in den Nachbarländern Pakistan oder Iran aufhalten und daher gewisse Sprachbesonderheiten nicht auffällig sein werden. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes sind seit 2002 5,8 Millionen afghanische Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückgekehrt, wobei es sich bei der größten Gruppe zurückgekehrter Flüchtlinge um solche aus den Nachbarstaaten Iran und Pakistan handelt. Darüber hinaus halten sich derzeit noch ca. 3 Millionen offiziell registrierte afghanische Flüchtlinge in Iran und in Pakistan auf. Hinzu kommen unregistrierte Afghanen, die von der iranischen Regierung nicht als Flüchtlinge anerkannt sind (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19. Oktober 2016 (Stand: September 2016), S. 24). [...]