Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung der Frage, ob das nach nationalem Recht bestehende Visumerfordernis beim Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer mit der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 vereinbar ist.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Ist die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 durch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 vollständig ersetzt worden oder ist die Rechtmäßigkeit neuer Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zwischen dem Inkrafttreten des Beschlusses 2/76 und der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 eingeführt worden sind, weiterhin nach Art. 7 ARB 2/76 zu beurteilen?
2. Falls Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass Art. 7 ARB 2/76 nicht vollständig abgelöst worden ist: Ist die zu Art. 13 ARB 1/80 ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in vollem Umfange auch auf die Anwendung des Art. 7 ARB 2/76 mit der Folge zu übertragen, dass Art. 7 ARB 2/76 dem Grunde nach auch eine mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführte nationale Regelung erfasst, mit der der Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer von der Erteilung eines nationalen Visums abhängig gemacht wird?
3. Ist die Einführung einer solchen nationalen Regelung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, insbesondere durch das Ziel einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt, wenn besonderen Umständen des Einzelfalls durch eine Härtefallklausel Rechnung getragen wird? [...]
Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Dogan (Urteil vom 10. Juli 2014 - C-138/13 - Rn. 36) anerkannt hat, kann eine Verschärfung der Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger eine "neue Beschränkung" der Ausübung wirtschaftlicher Freiheiten - hier: der Arbeitnehmerfreizügigkeit - durch diese türkischen Staatsangehörigen sein und damit in den Anwendungsbereich der assoziationsrechtlichen Stillhalteklauseln fallen. Das dürfte auch für die Einführung einer Visumpflicht gelten (vgl. etwa EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009 - C-228/06 [ECLI:EU:C:2009:101], Soysal - Rn. 55).
Das vorlegende Gericht hat gleichwohl Zweifel, ob die Einführung der allgemeinen Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, soweit sie den Familiennachzug betrifft, vorliegend von einem assoziationsrechtlichen Verschlechterungsverbot erfasst wird (Vorlagefrage 1).
Die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige wurde durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782) mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführt. Zuvor mussten türkische Staatsangehörige die Aufenthaltserlaubnis nur dann in der Form des Sichtvermerks vor der Einreise einholen, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes <DVAuslG> vom 10. September 1965 <BGBl. I S. 1341>). Die Einführung der Visumpflicht fiel somit in den zeitlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 2/76 und lag vor dem Beginn der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 (1. Dezember 1980, vgl. Art. 16 ARB 1/80). Folglich stellte die Visumpflicht, wenn nur Art. 13 ARB 1/80 anwendbar wäre, keine verbotene Verschlechterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers dar.
Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass zwar grundsätzlich der Beschluss Nr. 2/76 nicht mehr anzuwenden sei, weil der Beschluss Nr. 1/80 für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen günstigere Regelungen enthalte. Die Übertragbarkeit dieses vom Gerichtshof in der Rechtssache Bozkurt (Urteil vom 6. Juni 1995 - C-434/93 [ECLI:EU:C:1995:168] - Rn. 14) für das Verhältnis von Art. 2 ARB 2/76 und Art. 6 ARB 1/80 angenommenen Vorrangs des Beschlusses Nr. 1/80 auf die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 bedarf der Klärung. Denn die Folge einer Nichtanwendung wäre, dass sich der Status der Arbeitnehmer verschlechtern könnte, weil alle zwischen dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 2/76 und der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 zum Nachteil des Arbeitnehmers eingetretenen Veränderungen nunmehr zu beachten wären (vgl. in diesem Sinne auch VGH Mannheim, Beschluss vom 21. Juli 2014 - 11 S 1009/14 - InfAuslR 2014, 361). Für eine fortbestehende Anwendbarkeit des Art. 7 ARB 2/76 könnte ferner sprechen, dass mit dem Beschluss Nr. 1/80 eine weitere Verbesserung der Rechtsstellung der türkischen Staatsangehörigen beabsichtigt war, so dass eine Ersetzung des Beschlusses Nr. 2/76 durch den Beschluss Nr. 1/80 nur bei für den türkischen Staatsangehörigen günstigeren Regelungen in Betracht käme. Ferner könnte die Rücknahme von durch den Beschluss Nr. 2/76 gewährten Vergünstigungen außerhalb der Kompetenz des Assoziationsrates liegen (vgl. in diesem Sinne Gutmann, in: GK-AufenthG, Kommentar, Stand: Januar 2017, Art. 13 ARB 1/80 Rn. 3). Die Anwendbarkeit des Art. 7 ARB 2/76 könnte sich weiter daraus ergeben, dass sich nach dem heutigen Stand der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum ARB 1/80 Erschwernisse im Bereich der Familienzusammenführung als Verschlechterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers erweisen können (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-138/13 - Rn. 34 f.) mit der Folge, dass Art. 13 ARB 1/80, der die Familienangehörigen erstmals erwähnt, zwar erstmals auch eigene Rechte der Familienangehörigen begründet, aber Art. 7 ARB 2/76 für diejenigen Fälle weiterhin Anwendung findet, in denen es um die originäre Rechtsstellung des ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmers geht. Die deutsche Bundesregierung tendierte in einer Antwort vom 2. Februar 2011 auf eine parlamentarische Anfrage ebenfalls zur einer parallelen Anwendbarkeit beider Stillhalteklauseln (BT-Drs. 17/4623 S. 5).
Dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Bozkurt (Urteil vom 6. Juni 1995 - C-434/93 - Rn. 14) könnte möglicherweise aber auch die weitergehende Aussage zu entnehmen sein, dass der Beschluss Nr. 1/80 (insbesondere die Vorschriften des Kapitels II) zu einer Erweiterung der Rechtsstellung des türkischen Arbeitnehmers geführt hat und daher die (gegenüber den Regelungen des Beschlusses Nr. 2/76 insgesamt günstigeren) Regelungen des Beschlusses Nr. 1/80 ab dessen Inkrafttreten bzw. Anwendbarkeit an die Stelle der (insgesamt ungünstigeren) Bestimmungen des Beschlusses Nr. 2/76 getreten sind, die Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 also vollständig durch Art. 13 ARB 1/80 ersetzt wurde. Für eine vollständige Ersetzung des Art. 7 ARB 2/76 könnte zudem die Tatsache anzuführen sein, dass in Art. 13 ARB 1/80 erstmals die Familienangehörigen Erwähnung finden und der Fragenkomplex des Familiennachzugs noch nicht Gegenstand des Beschlusses Nr. 2/76 war. Mit der Einbeziehung der Familienangehörigen in Art. 13 ARB 1/80 sollte Schritt in Richtung weitergehende Integration unternommen werden. [...]
[...] Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang auch die Frage (Vorlagefrage 2), ob die auf der Grundlage des Art. 13 ARB 1/80 ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs in vollem Umfang auf die Anwendung des Art. 7 ARB 2/76 übertragen werden kann mit der Folge, dass diese Stillhalteklausel einem nach ihrem Inkrafttreten eingeführten nationalen Visumerfordernis für den Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer entgegensteht. Dies könnte deshalb zweifelhaft sein, weil die Einbeziehung von Regelungen über die Familienzusammenführung in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel und deren Anerkennung als (mittelbare) neue Beschränkungen des türkischen Arbeitnehmers (vgl. EuGH, Urteil vom 12. April 2016 - C-561/14 - Rn. 44) erst auf der Grundlage des Beschlusses Nr. 1/80 erfolgt sind und auch sonst die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Reichweite und Wirkungen assoziationsrechtlicher Regelungen sich erst nach dem ARB 1/80 entwickelt hat.
[...] Sollte die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 zu bejahen sein, bedarf der Klärung, ob eine nationale Regelung, mit der der Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer von der Erteilung eines nationalen Visums abhängig gemacht wird, durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, insbesondere durch das Ziel einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme, gerechtfertigt ist (Vorlagefrage 3). [...]