SG Kassel

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Zitieren als:
SG Kassel, Beschluss vom 15.02.2017 - S 11 SO 9/17 ER - asyl.net: M24735
https://www.asyl.net/rsdb/M24735
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung von vorläufigen Leistungen nach SGB XII für Familie aus Ungarn:

Trotz der Neuregelung des § 7 Abs. 1 SGB II und § 23 Abs. 3 SGB XII Gewährung von Sozialhilfe nach § 23 Abs. 1 SGB XII, wegen Ermessensreduzierung auf Null (zumindest im Eilrechtsschutzverfahren dem BSG folgend, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - asyl.net: M23659, Asylmagazin 6/2016). Die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung ist zweifelhaft. Zudem sind Leistungen im Sinne des Vertrauensschutzes weiter zu gewähren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Leistungsausschluss, SGB II, SGB XII, Arbeitnehmerstatus, Freizügigkeitsrecht, geringfügige Beschäftigung, Beschäftigungsdauer, Sozialrecht, Sozialhilfe, Sozialleistungen, Verfassungsmäßigkeit,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1, SGB XII § 23 Abs. 3, SGB XII § 23, SGB XII § 19 Abs. 1, SGB XII § 27 Abs. 1, SGB XII § 23 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Indessen ist, anders wie die Antragsgegnerin meint, ihre (weitere), jedenfalls vorläufige Leistungsverpflichtung trotz der ab 29.12.2016 gültigen Neufassung des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII (Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, BGBl. I, S. 3155) auf Grundlage der im Verfahren B 4 AS 44/15 R am 03.12.2015 ergangenen Entscheidung des BSG unter Beachtung der bedeutsamen verfassungsrechtlichen Grundsätze jedenfalls nach Maßgabe der Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gegeben.

Trotz der als Reaktion des Gesetzgebers auf die nicht gebilligte Rechtsprechung des BSG in der o. g. Entscheidung vorgenommenen Neufassung des § 7 Abs. 1 SGB II und des § 23 Abs. 3 SGB XII (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 2 B) mit einem nunmehrigen Leistungsanspruch für Ausländer nach § 23 SGB XII nach einem mindestens 5 Jahre dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet ohne wesentliche Unterbrechung (vgl. § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII n. F.), führt das Erwerbsverhalten der Antragsteller seit 2013 und auch aktuell dazu, dass ein Leistungsanspruch der Antragsteller allein nach dem SGB XII angenommen werden muss. [...]

Wegen des auch im Falle der Antragsteller (weiterhin) anzunehmenden Leistungsausschlusses im Rahmen des SGB II hat das BSG in der o.g. Entscheidung (a.a.O., zitiert nach juris, Rd.-Nr. 37) gleichwohl eine Leistungsberechtigung im Sinne des Sozialhilferechts angenommen, wenn ein Antragsteller seinen Lebensunterhalt nicht im Sinne des § 19 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 27 Abs. 1 SGB XII aus eigenen Kräften und Mitteln decken kann. [...]

Trotz der Bestimmung des § 23 Abs. 3 SGB XII (a.F. bis 28.12.2016) wonach Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, oder deren Aufenthalt sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, hat das BSG in der o.g. Entscheidung (a.a.O., Rd.-Nr. 53 ff.) die Verpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 S. 1 SGB XII (a.F. und n.F.) bejaht. Es hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass das Ermessen des Sozialhilfeträgers in einem solchen Fall dem Grunde und der Höhe nach hinsichtlich der Hilfe zum Lebensunterhalt auf Null reduziert sei. Dies hat es gerade für den Fall angenommen, dass sich das Aufenthaltsrecht des von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossenen Ausländers verfestigt hat (BSG a.a.O.). Ein solches Aufenthaltsrecht hat das BSG insbesondere bejaht (vgl. Rd.-Nr. 55, zitiert nach juris), wenn der tatsächliche Aufenthalt des Betroffenen in Deutschland auch noch nach Ablauf von 6 Monaten besteht. [...] Schließlich hat das BSG in der genannten Entscheidung (Rd.-Nr. 57), der die erkennende Kammer insoweit voll umfänglich folgt, unmissverständlich auf Grundlage der Entscheidungen des BVerfG einen Anspruch von Betroffenen, wie den Antragstellern, auf Grundlage des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bekräftigt. Trotz der nicht zuletzt von der Antragsgegnerin unter Hinweis auf zahlreiche Entscheidungen von (anderen) Sozialgerichten in 2016 vehement geäußerten Kritik an der BSG-Rechtsprechung sieht sich das Gericht auch in Ansehung der gesetzlichen Neuregelung auf Basis verfassungsrechtlicher Grundsätze nicht gehindert, die weiterbestehende vorläufige Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers anzunehmen und damit die Antragsgegnerin zur vorläufigen Leistungsgewährung an die Antragsteller zu verpflichten.

Denn die Beachtung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze nach Vorgabe der BSG-Entscheidung, zu denen auch das erstinstanzlich tätig werdende Gericht verpflichtet ist, lassen es geboten erscheinen, in Abweichung vom bloßen Wortlaut der Regelung des § 23 Abs. 3 SGB XII (n. F.) im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren maßgeblichen Folgenabwägung eine (vorläufige) weitere Leistungsverpflichtung des Sozialhilfeträgers zur Gewährung von Hilfen zum Lebensunterhalt zu bejahen. Dabei kann nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass die Antragsgegnerin in dem früheren von den Antragstellern geführten Verfahren, zu denen die Antragsgegnerin beigeladen worden ist (S 6 AS 268/14 und S 6 AS 156/16) ihre Leistungsverpflichtung anerkannt und schließlich den Antragstellern für das gesamte Jahr 2016 Hilfe zum Lebensunterhalt auf Grundlage des SGB XII gewährt hat. Dies schafft jedenfalls vorliegend nach Auffassung der erkennenden Kammer einen so weitgehenden Vertrauensschutz, dass die zulasten der Antragsteller übergangslos mit Wirkung ab 29.12.2016 geltende Bestimmung des § 23 Abs. 3 SGB XII unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten (vorläufig) anders zu bewerten ist als etwa im Falle eines Neu-Antragstellers im Jahr 2017. Die vom Gesetzgeber mit der Neuregelung vorgesehenen Überbrückungsleistungen, auch in Härtefällen sowie für den Fall der Rückreise (vgl. § 23 Abs. 3 S. 3, S. 5 und Abs. 3 a SGB XII, n. F.) stellen keinen verfassungsrechtlich gebotenen Ausgleich für den Wegfall der grundsätzlichen Hilfeleistung von einem Tag auf den anderen dar (vgl. trotz grundsätzlicher Bestätigung des Leistungsausschlusses nach dem neuen § 23 Abs. 3 SGB XII, Beschluss des SG Dortmund, 31.01.2017, S 62 SO 628/16 ER, zitiert nach juris, Rd.-Nr. 44 und 45).

Wegen der durchaus zweifelhaften Verfassungsmäßigkeit (auch) der Neuregelung des § 23 Abs. 3 SGB XII ab 29.12.2016, die wegen der Dringlichkeit einer Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz nicht erschöpfend und abschließend von der erkennenden Kammer geprüft werden kann, ist zur Vermeidung einer existenziellen Notlage der Antragsteller, die bei ungewissem Ausgang des Hauptsacheverfahrens (nachträglich) nicht mehr ausgeglichen werden kann, wie austenoriert die vorläufige Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin auszusprechen. [...]