VG Schwerin

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Zitieren als:
VG Schwerin, Urteil vom 20.01.2017 - 15 A 3003/16 As SN - asyl.net: M24719
https://www.asyl.net/rsdb/M24719
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea:

1. Die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea dient nicht nur der Aufrechterhaltung der Disziplin und der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern angesichts ihrer Härte auch der Verfolgung von (vermeintlichen) Regimegegnern (sich anschließend an VG Minden, Urteil vom 13.11.2014 - 10 K 2815/13.A - asyl.net: M22523, Asylmagazin 3/2015 und ständige Rechtsprechung der 3. Kammer des VG Schwerin).

2. Die derzeitige Handhabung der sog. Diaspora-Steuer (Aufbausteuer) durch Eritrea ändert nichts an der Einschätzung, dass eritreische Staatsangehörige, die ihr Heimatland illegal verlassen haben, bei Rückkehr mit staatlichen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Eritrea, Wehrdienstentziehung, Nationaldienst, Militärdienst, politische Verfolgung, National Service, Asylrelevanz, illegale Ausreise, Asylantrag, Asylantragstellung, Wehrdienstverweigerung, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2, AsylG § 3a Abs. 3,
Auszüge:

[...]

1. Nach Auffassung des Gerichts ist der Kläger eritreischer Staatsangehöriger. Dies wird auch von der Beklagten nicht angezweifelt. Aufgrund seines Lebensalters unterliegt er nach den Erkenntnissen des Gerichts der Dienstpflicht zum nationalen Dienst bzw. könnte bei einer Rückkehr nach Eritrea zeitnah zum Militärdienst eingezogen werden. [...] Deshalb ist ihm nach Auffassung des Gerichts der Flüchtlingsstatus gemäß § 3 Abs. 4 Asylgesetz (AsylG) zuzuerkennen. [...]

3. Dabei kommt es aus der Sicht des Gerichts nicht darauf an, ob der Kläger Eritrea verfolgt oder unverfolgt verlassen hat, sondern allein auf die Frage, mit welchen Maßnahmen er im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen hätte. Bezüglich dieser Prognose kann auch nicht allein auf ein bei objektiver Betrachtung dem Kläger zuzurechnendes Verhalten – z.B. eine exilpolitische Betätigung – abgestellt werden, sondern es ist vielmehr in den Blick zu nehmen, wie die eritreischen Staatsorgane unter Berücksichtigung der Erkenntnislage wahrscheinlich das Verhalten des Klägers würdigen würden. Dabei kommen nach Auffassung des Gerichts der Entziehung vom nationalen Dienst sowie der illegalen Ausreise maßgebliche Bedeutung zu. Das Verwaltungsgericht Minden hat hierzu in seinem Urteil vom 13. November 2014 - Az. 10 K 2815/13.A – ausgeführt: [...]

4. Dieser Argumentation schließt sich das erkennende Gericht, wie bereits dessen 3. Kammer in ständiger Rechtsprechung entschieden hat […], vollumfänglich an. Würden Wehrdienstpflichtige im Lande verbleiben, könnten sie dem Wehrdienst nicht ausweichen und würden dem konkreten Risiko unterliegen, als Deserteure schwerster und willkürlicher Bestrafung ausgesetzt zu sein. [...]

Das Gericht hält auch angesichts der neueren Entwicklung in Eritrea insbesondere bezüglich der derzeitigen Handhabung der sog. Diaspora-Steuer (dazu Auswärtiges Amt, Lagebericht Eritrea vom 21. November 2016 (Stand: November 2016), S. 17; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche vom 15. August 2016 zu Eritrea: Rückkehr; Eidgenössisches Justiz-und Polizeidepartement Staatssekretariat für Migration (SEM), Focus Eritrea Update Nationaldienst und illegale Ausreise vom 22. Juni 2016 (aktualisiert am 10. August 2016), S. 32 ff.; EASO, Eritrea: Nationaldienst und illegale Ausreise (November 2016), S. 27 ff.) weiter an seiner Linie fest, grundsätzlich darauf abzustellen, dass bereits der illegale Grenzübertritt zumindest in zeitlicher Nähe zur Wehrpflicht zu Verfolgungsmaßnahmen des eritreischen Staates führen kann. [...]

b) Aus der jedenfalls seit 2014 bestehenden Praxis, wonach illegal ausgereiste Personen, die sich drei Jahre im Ausland aufgehalten haben und nunmehr freiwillig nach Eritrea nach Unterzeichnung einer Reue-Erklärung und Zahlung der 2 %- Diaspora-Steuer zurückkehren, straffrei bleiben sollen [...], lässt sich nach Auffassung des Gerichts wegen der geschilderten Unberechenbarkeit des Regimes derzeit noch nicht schließen, dass die Rückkehrer in diesen Fällen keine Verfolgung mehr zu befürchten haben. Dafür fehlt es bislang an ausreichenden Erfahrungswerten. Zunächst handelt es sich - soweit ersichtlich - um eine relativ kurzzeitige Praxis der eritreischen Behörden, so dass sich angesichts des willkürlichen Verhaltens in der Vergangenheit nicht überblicken lässt, ob und wie lange sich die Behörden daran halten werden. Zudem fehlt es an Rechtssicherheit, weil die dazu ergangene Richtlinie nicht veröffentlicht wurde (EASO, Nationaldienst, S. 9). Es handelt sich insbesondere um keine Amnestie der Rückkehrer, die sich dem nationalen Dienst entzogen haben (vgl. SEM, Nationaldienst, S. 29). Aus dem Inhalt der Reue-Erklärung, die rückkehrwillige Eritreer abgeben müssen, kann nicht geschlossen werden, dass Eritrea auf seinen Strafanspruch verzichtet hat, auch wenn es derzeit scheint, dass die Rückkehrer nicht bestraft werden: [...]

In der Gesamtschau ist es den Asylbewerbern nach Auffassung des Gerichts nicht zuzumuten, die Diaspora-Steuer zu entrichten, um unbehelligt nach Eritrea zurückzukehren, zumal dann nicht, wenn sie nach Eritrea abgeschoben werden sollen, also die Ausreise nicht freiwillig geschieht. Allenfalls kurzfristige Aufenthalte in Eritrea erscheinen danach möglich zu sein. c) Nach Einschätzung des Gerichts nehmen zudem eritreischen Behörden Verweigerungen oder Unregelmäßigkeiten im Rahmen des nationalen Dienstes zum Anlass, auf eine Regimegegnerschaft der betroffenen Person zu schließen. Zwar dienen regelmäßig Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung nicht der politischen oder religiösen Verfolgung, sondern werden ungeachtet solcher Merkmale im Regelfall allgemein und unterschiedslos gegenüber allen Deserteuren oder Verweigerern aus Gründen der Aufrechterhaltung der Disziplin verhängt. Nicht jede Sanktionierung ist automatisch eine flüchtlingsrelevante Verfolgung. Denn die Einberufung zum Wehrdienst und die Bestrafung einer gesetzwidrigen Verweigerung der Erfüllung der Wehrpflicht stellen grundsätzlich nicht Maßnahmen politischer Verfolgung dar. Es ist das Recht eines jeden - auch totalitären - Staates, die Ableistung des Wehrdienstes im Rahmen seiner Gesetze grundsätzlich von allen davon erfassten Bürgern unterschiedslos zu verlangen. [...] In eine flüchtlingsrelevante Verfolgung schlägt eine Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung aber um, wenn sie zielgerichtet gegenüber Personen eingesetzt wird, die durch diese Maßnahme gerade wegen eines in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmals getroffen werden soll. [...]

Gleiches gilt, wenn die zuständigen Behörden aus der Verwirklichung der Tat auf eine Regimegegnerschaft der betroffenen Person schließen und die strafrechtliche Sanktion nicht nur der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern auch der Bekämpfung von politischen Gegnern dient. Die außergewöhnliche Härte einer drohenden Strafe wegen Wehrdienstentziehung gibt regelmäßig insbesondere dann Anlass zur Prüfung ihrer Asylrelevanz, wenn in einem totalitären Staat ein geordnetes und berechenbares Gerichtsverfahren fehlt und solche Strafen - auch und gerade während eines Krieges - willkürlich verhängt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juni 1991 – 9 C 131.90 – juris Rn. 19) bzw. ein solches staatliches Vorgehen über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann [...]

Die nach der Erkenntnislage ohne gerichtliches Verfahren willkürlich verhängten strafrechtlichen Sanktionen dienen in Eritrea nicht nur der Disziplinierung von Armeeangehörigen und der Ahndung kriminellen Unrechts (so aber VG Regensburg, Urteil vom 27. Oktober 2016 – RN 2 K 16.31289 –, juris Rn. 35; Bundesverwaltungsgericht (Schweiz), Urteil vom 30. Januar 2017 - D-7898/2015, Umdruck, S. 41 ff. (Nr. 5) in Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteil vom 6. April 2010 -D-3892/2008 -, Umdruck, S. 9 ff., Nr. 5.3 ff.); VG Schwerin, Urteil vom 23. November 2016 - 15 A 1444/16 As SN), sondern auch der Bekämpfung von politischen egnern (ebenso Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 17. Januar 2017 – 3 K 2357/16 –, juris LS und Rn. 12 ff. unter Hinweis auf Verwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 22. Januar 2015 – 3 K 403/14 –, juris Rn. 31 ff. mwN.; vgl. auch VG Hannover, Urteil vom 26.Oktober 2016 - 3 A 5251/16 -, (juris), Umdruck, S. 5 ff.; ausführlich VG C-Stadt, Beschluss vom 05. Oktober 2016 – 4 A 3618/16 –, juris LS 1 und Rn. 6 ff., 15, 17 ff.; ebenso Bundesverwaltungsgericht (Österreich), Spruch vom 20. Dezember 2016 - W232 2114135-1 -, Umdruck, S. 8 f., 10 ff.). [...]