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VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 24.11.2016 - 1 B 77/16 - asyl.net: M24671
https://www.asyl.net/rsdb/M24671
Leitsatz:

1. Bei der Beurteilung der Frage, ob "konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung" bevorstehen, die die Erteilung einer Ausbildungsduldung ausschließen, ist auf den Zeitpunkt der Einreichung des Ausbildungsvertrags bei der zuständigen Kammer, wenn nicht sogar auf die spätere Eintragung des Ausbildungsverhältnisses in die Lehrlingsrolle, abzustellen.

2. Konkrete aufenthaltsbeendende Maßnahmen umfassen nicht nur Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs, sondern auch schon Vorbereitungshandlungen.

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Bevorstehen konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung, Drittstaatenregelung, Abschiebungsandrohung, Beurteilungszeitpunkt, Abschiebung, sichere Drittstaaten, Bulgarien,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 4, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3,
Auszüge:

[...]

Zunächst ist festzustellen, dass der Antragsgegner für die Entscheidung über das Vorliegen von Duldungsgründen zuständig ist. Zwar ist der Asylantrag des Antragstellers durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30.06.2015 als unzulässig abgelehnt worden, da dem Antragsteller bereits in einem sicheren Drittstaat (Bulgarien) internationalen Schutz zugesprochen worden ist. Das Bundesamt hat zu Ziff. 2 des Bescheides indes eine Abschiebeandrohung (und keine Abschiebeanordnung) erlassen. Dies entspricht der nunmehr hier zugrunde zu legenden aktuellen Rechtslage, wie sie sich aus § 35 AsylG in der Fassung des Gesetzes vom 31.07.2016 ergibt, wonach das Bundesamt in den Fällen des § 29 Absatz 1 Nummer 2 (Zuerkennung internationalen Schutzes in einem Mitgliedsstaat der EU) und 4 AsylG dem Ausländer die Abschiebung in den Staat androht, in dem er vor Verfolgung sicher war.

Damit besteht indes aber auch keine ausschließliche Prüfungskompetenz des Bundesamtes hinsichtlich des Vorliegens aller einer Abschiebung entgegenstehenden, auch inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisse, die nur in den Fällen des Erlasses einer Abschiebeanordnung nach § 34a AsylG anzunehmen ist, da (nur) die Abschiebeanordnung voraussetzt, dass feststehen muss, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 17.09.2014, 2 BvR 1795/14, Juris, Rn. 9). [...]

Für die Beurteilung der Frage, ob konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen, ist angesichts der gesetzgeberischen Ziele maßgeblich auf die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Einreichung des Ausbildungsvertrags bei der zuständigen Kammer - wenn nicht sogar auf den späteren Zeitpunkt der Eintragung des Ausbildungsverhältnisses in die Lehrlingsrolle - abzustellen. Demgegenüber begründet die Unterzeichnung des Ausbildungsvertrags oder gar die bloße Zusicherung oder Bekundung der Absicht, künftig einen Berufsausbildungsvertrag abzuschließen, einen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG noch nicht. Nichts anderes ergibt sich aus der in § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG aufgenommenen Wendung, dass eine Duldung (außer in den Fällen einer bereits aufgenommenen Ausbildung) auch dann zu erteilen ist, wenn der Ausländer eine Ausbildung (erst) "aufnimmt". Denn damit wird nur dem Umstand Rechnung getragen, dass zwischen der Einreichung des Ausbildungsvertrags bei der Kammer und dem nächstmöglichen Beginn der Ausbildung nicht selten eine längere Zeit verstreicht. Diese Wartezeit soll sich nicht zu Lastendes Ausländers auswirken.

Das Vorliegen der Erteilungsvoraussetzungen einer Ausbildungsduldung kann nämlich nur dann zuverlässig festgestellt werden, wenn der Ausländerbehörde oder dem Gericht ein Nachweis über den Eintrag des Ausbildungsverhältnisses in die Lehrlingsrolle vorliegt. Die Lehrlingsrolle ist das zentrale Verzeichnis der Berufsausbildungsverhältnisse und dient deren Regelung, Überwachung und Förderung, insbesondere zur Sicherung der fachlichen Qualität der Ausbildung. Da nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 BeschV die Aufnahme einer Berufsausbildung, wie dargelegt, nicht der Zustimmung der Arbeitsagentur bedarf und das Ausbildungsverhältnis eines ausreisepflichtigen Ausländers auch ohne Mitwirkung der Ausländerbehörde begründet werden kann, ist allein die für den jeweiligen Beruf zuständige Kammer die Stelle, welche eine Prüfung des Inhalts eines Berufsausbildungsvertrages auf formelle und inhaltliche Richtigkeit vornehmen kann. Diese umfasst insbesondere die Prüfung, ob die Berechtigung besteht, den betroffenen Ausländer an der gewählten Ausbildungsstätte durch die vorgesehenen Personen auszubilden (vgl. BT-Drucksache 18/9090, S. 26 zu § 60a AufenthG und Fehrenbacher, HTK-AuslR., § 60a AufenthG zu Abs. 2 Satz 4, Nr. 2.1). Zudem ist die Eintragung des Ausbildungsverhältnisses in die Lehrlingsrolle berufsrechtliche Voraussetzung für die Zulassung zur Abschlussprüfung (vgl. § 43 Abs. 1 Nr. 3 BBiG). Nach § 60a Abs. 2 Satz 9 AufenthG erlischt die einem Ausländer erteilte Ausbildungsduldung bei einem Nichterreichen des Ausbildungsziels. Hieraus folgt zugleich, dass ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung von vornherein nicht besteht, wenn ein qualifizierter Berufsabschluss nicht erreicht werden kann, weil dem Betroffenen mangels einer Eintragung seines Ausbildungsvertrags in die Lehrlingsrolle die Teilnahme an der Abschlussprüfung nicht möglich wäre. [...]

Auf eine eventuelle mündliche Zusage eine Ausbildungsverhältnisses kommt es, wie oben dargelegt, als entscheidungserheblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen, nicht an (a.A wohl VGH Mannheim, Beschluss vom 13.10.2016, 11 S 1991/16, Juris, Rn. 16, wonach es bei einer mündlichen Ausbildungszusage ggf. Sache der Ausländerbehörde ist, die Voraussetzungen der Eintragungsfähigkeit des Ausbildungsverhältnisses selbst zu prüfen). [...]

Der gesetzliche Anspruch des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG setzt voraus, dass "konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen". Ziel dieser Regelung ist es, der Durchsetzung der Ausreisepflicht dann den Vorrang einzuräumen, wenn eine Abschiebung, Zurückschiebung oder Überstellung des Betroffenen absehbar ist. Für diese Einschränkung hat der Gesetzgeber ein Bedürfnis gesehen, weil sich wegen der Ausgestaltung des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG als Anspruchsnorm ein Vollzugshindernis auch dann ergäbe, wenn eine Abschiebung, Zurückschiebung oder Überstellung bereits konkret vorbereitet worden ist, z.B. durch die Beantragung eines Pass(ersatz)papiers, die Terminierung der Abschiebung oder die Einleitung einer Dublin-Überstellung. In einem solchen Fall dürfte eine Aufenthaltsbeendigung nicht erfolgen, sobald der Betroffene einen die rechtlichen Bedingungen für die Aufnahme eines Berufsausbildungsverhältnisses erfüllenden Vertrag vorlegt und die Berufsausbildung beginnt (vgl. BT-Drucksache 18/9090, a.a.O.). Mit der Herausnahme von Fällen einer konkret absehbaren Aufenthaltsbeendigung aus dem Anwendungsbereich von § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass in erster Linie Ausbildungsverhältnisse geschützt werden sollen, die sich als Folge einer bereits begonnenen Integration darstellen. Demgegenüber sollen Ausbildungsverhältnisse, die erst im Lichte einer drohenden Aufenthaltsbeendigung nach dem Entfallen oder der Feststellung des Fehlens von Abschiebungshindernissen kurzfristig angestrebt oder aufgenommen werden, einen Anspruch auf einen Verbleib im Bundesgebiet nicht vermitteln können. Das wirtschaftliche Interesse daran, aus dem Kreis ausreisepflichtiger Ausländer Auszubildende gewinnen zu können, muss in diesen Fällen zurücktreten (VG Neustadt (Weinstraße), Beschluss vom 12.10.2016, 2 L 680/16.NW; Juris, Rn. 7).

Der Begriff der "Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung" ist auch nicht gleichzusetzen mit Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs. Vielmehr ist er in einem weiteren Sinne zu verstehen und umfasst - wie sich aus den Regelbeispielen in der Begründung des Gesetzesentwurfs ergibt - auch Vorbereitungshandlungen, die die Durchsetzung der Ausreisepflicht zum Gegenstand haben. Hierunter fallen namentlich die Einräumung einer mit einer Abschiebungsankündigung verbundenen letztmaligen Frist zur freiwilligen Ausreise oder vergleichbare behördliche Handlungen, denen zu entnehmen ist, dass der weitere Aufenthalt nicht mehr hingenommen und eine Aufenthaltsbeendigung aktuell angestrebt wird. "Konkret" im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist eine solche Maßnahme, wenn die Behörde dem Betroffenen in individualisierter Weise zu erkennen gibt, dass sie seinen Aufenthalt in naher Zukunft zwangsweise beenden wird. Nicht erforderlich ist, dass ein Termin für die Aufenthaltsbeendigung bereits feststeht und dem Ausländer mitgeteilt wurde. Gegenteiliges lässt sich auch der Begründung des Gesetzesentwurfs nicht entnehmen. Die dort genannten Beispiele, welche eine bevorstehende Aufenthaltsbeendigung umschreiben, schließen vielmehr einen Rechtsanspruch auch in der häufig langandauernden Spanne zwischen der Beschaffung eines Rückreisepapiers oder der Erwirkung einer Übernahmezusage bis zur Abschiebung oder Überstellung aus. Andererseits entspräche es nicht, dem Regelungszweck des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, Integrationsleistungen, die der Ausländer bis zum Eintritt der Rückführungsmöglichkeit erreicht hat, nur deshalb unbeachtet zu lassen, weil sich die Behörde bereits in der Vergangenheit um die eine Aufenthaltsbeendigung bemüht hat. Ab welchem Zeitpunkt Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung hinreichend konkret sind, um den Anspruch auf Erteilung einer Ausbildungsduldung auszuschließen, kann letztlich nicht in allgemeingültiger Weise, sondern nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. [...]