VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 24.01.2017 - 4 A 214/16 - asyl.net: M24664
https://www.asyl.net/rsdb/M24664
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen zahlreicher Erkrankungen, hochgradiger geistiger und körperlicher Behinderung (Versorgung über PEG-Sonde) und fehlender Versorgungsmöglichkeit in Serbien. Die staatliche Krankenversicherung trägt nur einen Teil der notwendigen (hohen) Behandlungs- und Unterkunftskosten.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Serbien, Krankheit, Schwerbehinderung, Behinderung, medizinische Versorgung, Behandlungskosten, erhebliche individuelle Gefahr, Epilepsie, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Lebensgefahr, pflegebedürftig, Kosten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Allerdings liegt bei der Klägerin ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bzgl. Serbiens vor. Nach dieser Regelung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben und Freiheit besteht. Es muss jedoch über Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt. Eine solche erhebliche individuelle und konkrete Gefahr für Leib und Leben besteht zur Überzeugung des Gerichts für die Klägerin wegen ihrer schweren Behinderung und Erkrankung sowie ihrem Betreuungs- und Pflegebedarf im Falle einer Abschiebung nach Serbien. Nach den vorliegenden stimmigen und überzeugenden ärztlichen Stellungnahmen leidet die Klägerin seit frühester Kindheit an einer Mikrozephalie mit Minderbegabung, Epilepsie, Taubstummheit sowie hochgradiger körperlicher Behinderung mit Steh- und Gehunfähigkeit und Dysphagie. Sie ist bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen. Nach einer Aspirationspneumonie im Sommer 2016 musste der Klägerin mit einer sogenannten perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG-Sonde) zur Sicherung einer vollwertigen bilanzierten Ernährung mittels flüssiger sogenannter Astronautenkost versorgt werden, wodurch Aspirationen in der Zukunft vermieden werden sollen. Die Implantationen einer solchen Sonde bei höhergradigen Schluckstörungen sind in der Bundesrepublik Deutschland seit etwa 20 Jahren gängige Praxis und setzen neben dauerhafter Verfügbarkeit entsprechend bilanzierter Sondenkost Kenntnis der Pflegenden im Umgang mit solchen Implantaten, aber auch möglichen Komplikationen voraus ebenso wie ein medizinisches Zentrum, in dem mit dem Verfahren vertraute Ärzte die Patienten im Falle von Komplikationen versorgen können. Die Sonde kann nur durch einen erneuten endoskopischen Eingriff entfernt werden, beispielsweise auch bei Leckage des Systems bei unsachgemäßer Versorgung. Die Dysphagie besteht bei der Klägerin fort und es kommt immer wieder bei der Klägerin zu Verschlucken, vor allem in ungewohnten Situationen, die die Klägerin ängstigen. Insbesondere die Epilepsie mit regelmäßig auftretenden epileptischen Anfällen bedingt eine notwendige Einnahme antiepileptischer Medikamente sowie regelmäßige ärztliche Kontrolluntersuchungen, vor allem zum Ausschluss möglicher Nebenwirkungen. Auch hierfür ist das Vorhandensein einer Sonde sowie des nötigen Equipments unabdingbar. Aufgrund der Enge der Eltern-Kind-Beziehung und der Komplexität des Krankheitsgeschehens droht eine weitere Verkürzung des verbliebenen Lebensspanne für die Klägerin, sollte sie statt von den Eltern in einem Heim fremdgepflegt werden. Die Klägerin verständigt sich mit ihren Eltern über eine jahrelang individuell eingeübte Mimik sowie Gebärden und ist im übrigen harninkontinent (vgl. die ärztlichen Stellungnahmen der Universitätsmedizin Göttingen vom 4. Mai 2016 und Herrn Dr. … vom 27. April, 12. August und 3. November 2016 sowie vom 2. Januar 2017 und von Frau Dr. … vom 5. Januar 2017). Die Klägerin ist schwerstbehindert und beträgt der Grad der Behinderung 100 mit den Merkzeichen G, aG, H und B seit dem 16. Dezember 2015 (vgl. Feststellungsbescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom 21. April 2016). Diese umfangreiche Versorgungs- und Pflegebedürftigkeit der Klägerin wird im Falle einer Abschiebung nach Serbien dort nicht gewährleistet sein und steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin in Serbien eine konkrete und erhebliche Gefahr für Leib und Leben droht, insbesondere eine schnelle Verkürzung ihrer Lebenserwartung eintreten wird. Durch die notwendig gewordene PEG-Sonde sind erhebliche Kosten für die Ernährung der Klägerin (etwa ca. 600 E monatlich) mit der damit verbundenen Versorgung und Pflege (unabhängig von der medikamentösen Versorgung der Klägerin) entstanden. Daneben fällt noch ein nicht unerheblicher Aufwand für die Körperpflege und Hygiene bei der Klägerin an (ca. 100,00 E monatlich), der nicht verordnungsfähig ist und in der Bundesrepublik Deutschland von der Kranken- oder Pflegeversicherung nicht getragen wird. Das diese erheblichen Versorgungs- und Pflegekosten in Serbien durch die dortige staatliche Krankenversicherung getragen würden, ist weder dargetan noch ersichtlich. Nach einer Auskunft der Deutschen Botschaft in Belgrad an das Bundesamt vom 25. September 2015 besteht bei einer Unterbringung und Versorgung einer Person mit einem Zustand nach einem schweren Schlaganfall und einer Versorgung mit einer PEG-Anlage in einem staatlichen Pflegeheim, die nur in geringer Zahl vorhanden sind, die Möglichkeit, dass die staatliche Krankenversicherung einen Teil der Behandlungs- und Unterkunftskosten trägt. Angesichts dessen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die hohen Kosten für die familiäre Versorgung und Pflege der Klägerin zumindest teilweise von ihr selbst zu tragen sind und von den Eltern der Klägerin nicht aufgebracht werden könnten. Die Eltern der Klägerin sind mit der rund um die Uhr notwendigen Versorgung und Betreuung der Klägerin bereits stark belastet, wobei die Mutter selbst dabei schon an ihre psychischen und physischen Belastungsgrenzen geraten ist (vgl. insoweit die ärztlichen Stellungnahmen des Asklepios Fachklinikums vom Dezember 2016 und von Frau Dr. ... vom 2. Januar 2017). Dass hier der Vater der Klägerin durch eine Erwerbstätigkeit neben dem Lebensunterhalt für die Familie auch die zu tragenden Kosten für die Versorgung und Pflege der Klägerin in Serbien aufbringen könnte, ist zur Überzeugung des Gerichts angesichts der Arbeitsmarktsituation in Serbien und dem Alter des Vaters der Klägerin realitätsfremd und zu verneinen. Diese finanzielle Einschätzung gilt gleichermaßen für den Fall einer Unterbringung in einem Pflegeheim in Serbien, wobei eine solche außerfamiliäre Unterbringung auch wegen der individuellen Situation der Klägerin zu einer erheblichen Leibes- und Lebensgefahr für sie führen würde. Durch die enge Eltern-Kind-Beziehung, die nur zwischen der Klägerin und ihren Eltern bestehende Kommunikationsmöglichkeit und die Komplexität des Krankheitsgeschehens droht selbst in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Heimunterbringung/-pflege eine Verkürzung der Lebensspanne der Klägerin (vgl. insoweit die Stellungnahme von Herrn Dr. ... vom 2. Januar 2017), was erst recht bei einer Heimunterbringung in Serbien gelten würde. Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass im Falle einer Abschiebung nach Serbien erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben für die Klägerin bestehen. Insbesondere wird es bei einer nicht gewährleisteten ordnungsgemäßen Versorgung und Pflege der Klägerin zu einer schnellen Verkürzung ihrer Lebensspanne und damit einer konkreten Lebensgefahr kommen. Damit ist der Klägerin Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bzgl. Serbiens zu gewähren und ist die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 8. April 2016 hierzu zu verpflichten. Damit können auch die unter den Ziffern 5. bis 7. getroffenen Entscheidungen keinen Bestand haben und ist der angegriffene Bescheid auch insoweit aufzuheben. [...]