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BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 - 2 BvR 2013/16 (ASYLMAGAZIN 4/2017, S. 161 ff.) - asyl.net: M24630
https://www.asyl.net/rsdb/M24630
Leitsatz:

Zur Erforderlichkeit der Vorlage an den EuGH:

1. Im Eilverfahren besteht nach bisheriger Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich keine Vorlagepflicht. Daher liegt in der Entscheidung des VG kein Entzug des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.

2. Stellt sich im Eilverfahren gegen einen Dublin-Bescheid jedoch eine Frage, die im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH erfordert, ist zu berücksichtigen, ob der betroffenen Person zugemutet werden kann, letzteres von einem anderen Mitgliedstaat aus zu betreiben. Im vorliegenden Fall verletzt die Ablehnung des Eilantrags, ohne entsprechende Abwägung, den Betroffenen in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, da es dem an Tuberkulose erkrankten Asylsuchenden nicht ohne Weiteres zumutbar ist, das Hauptsacheverfahren von Bulgarien aus zu betreiben.

3. Die Frage, ob die Durchführung des in Art. 5 Dublin-III-Verordnung vorgeschriebenen persönlichen Gesprächs für die Rechtmäßigkeit des Dublin-Bescheids beachtlich ist, erfordert eine Klärung durch den EuGH, wobei manches für die Beachtlichkeit spricht.

4. Die Klärungsbedürftigkeit der Frage, ob die Frist für die Stellung des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuchs bereits bei Asylgesuch oder erst bei förmlicher Asylantragstellung zu laufen beginnt kann offen bleiben, wobei das Beschleunigungsgebot der Dublin-Verordnung für den früheren Fristbeginn sprechen könnte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Krankheit, effektiver Rechtsschutz, Vorlagepflicht, Vorlageverfahren, EuGH, Bulgarien, Vorlage, persönliches Gespräch, Dublin III-Verordnung, Gesetzlicher Richter, Unionsrecht, Anhörung, Heilung, subjektives Recht, Drittschutz, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: VO 604/2013 Art. 5, GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, VwVfG § 46, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, AEUV Art. 267 Abs. 3, AEUV Art. 267, VO 604/2013 Art. 21 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 2 S. 1, VO 604/2013 Art. 23 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Zwar liegt kein Entzug des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Unterlassen einer Vorlage an den EuGH vor (1.). Der Beschluss des Verwaltungsgerichts verletzt aber das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG (2.). Ob die weiteren geltend gemachten Grundrechtsverstöße vorliegen, bedarf keiner Entscheidung (3.).

1. Es liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Eine Vorlagepflicht im Eilverfahren besteht nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich nicht, so dass eine Nichtvorlage des im Asyl-Eilverfahren letztinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgerichts keinen Entzug des EuGH als gesetzlichen Richter darstellt.

Es entspricht der bisher ganz herrschenden Auffassung, dass eine Nichtvorlage an den EuGH im Eilverfahren keinen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter begründen kann (vgl. BVerfGK 5, 196 <201>; BVerfGK 9, 330 <334 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 29. November 1991 - 2 BvR 1642/91 -, NVwZ 1992, S. 360; offen gelassen in BVerfGK 10, 48 <53>; aus der Literatur statt vieler Degenhart, in Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 101 Rn. 19). Dies folgt daraus, dass nach der Rechtsprechung des EuGH in Eilverfahren auch für das letztinstanzlich entscheidende Gericht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Mai 1977 – C-107/76 - Hoffmann La Roche, juris, Rn. 5; Urteil vom 27. Oktober 1982 - C-35/82 - Morson und Jhanjan, juris, Rn. 8 f.). Es ist ausreichend - allerdings auch erforderlich -, dass die Rechtsfrage im sich anschließenden Hauptsacheverfahren ohne Präjudiz durch die Eilentscheidung dem EuGH vorgelegt werden kann. Denn das Vorlageverfahren soll insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Unionsrechts nicht im Einklang steht.

Es kann dahin stehen, ob diese Rechtsprechung angesichts der Bedeutung des Vorlageverfahrens für den Individualrechtsschutz (vgl. statt vieler Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 267 AEUV, Rn. 12) zukünftig der Modifizierung bedarf, falls durch eine Eilentscheidung nicht umkehrbare Fakten geschaffen werden könnten. Soweit im Rahmen eines dem Hauptsacheverfahren vorgeschalteten Eilverfahrens prozessuale Gestaltungen denkbar sind, die die Möglichkeit einer Klärung unionsrechtlicher Zweifelsfragen im Hauptsacheverfahren erhalten, stellt es jedenfalls keinen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar, wenn eine Vorlage nicht schon im Eilverfahren an den EuGH gerichtet wird.

2. a) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verstößt jedoch gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 93, 1 <13>; stRspr). Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>), da dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient. Dabei ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn sich die vorzunehmende Interessenabwägung in erster Linie an der voraussichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts orientiert (vgl. BVerfGK 15, 102 <107>; zuletzt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. September 2016 - 1 BvR 1335/13 -, juris). Kommt diese Prüfung bei einem von Gesetzes wegen sofort vollziehbaren Bescheid zu dem Ergebnis, dass an dessen Rechtmäßigkeit keine ernsthaften Zweifel bestehen oder dieser sogar offensichtlich rechtmäßig ist, kann der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO - hier in Verbindung mit § 34a Abs. 2 AsylG - abgelehnt werden.

Stellt sich bei dieser Rechtsprüfung jedoch eine Frage, die im Hauptsacheverfahren voraussichtlich eine Vorlage des dann letztinstanzlich entscheidenden Gerichts an den EuGH erfordert, so lassen sich weder - ohne Weiteres - ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit verneinen, noch kann die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bejaht werden (vgl. zu ähnlichen Situationen BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. April 2005 - 1 BvR 223/05 -, juris; BVerfGK 11, 153 <158 f.>; einfach-rechtlich auch VGH Baden Württemberg, Beschluss vom 9. Oktober 2012 - 11 S 1843/12 -, juris, Rn. 23). In diesen Fällen wird eine Antragsablehnung mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nur dann Bestand haben können, wenn dieser Umstand - über die notwendig nur vorläufige rechtliche Einschätzung des Gerichts hinausgehend - in die Abwägung des Bleibeinteresses des Antragstellers mit dem öffentlichen Vollzugsinteresse einbezogen wird.

Im Anwendungsbereich der Dublin-III-VO ist dabei die Wertung des europäischen Rechts zu beachten, dass grundsätzlich in jedem Mitgliedstaat angemessene, durch das Unionsrecht vereinheitlichte Aufnahmebedingungen herrschen, die Mindeststandards festlegen (vgl. EuGFI, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 - Ghezelbash -, juris, Rn. 60). Ein Überwiegen des Suspensivinteresses wird bei einer unionsrechtlich nicht geklärten Rechtsfrage, die das Verwaltungsgericht im Eilverfahren vorläufig zu Lasten des Asylbewerbers entscheidet, deshalb nur dann zu bejahen sein, wenn besondere, in der Person des Asylbewerbers liegende Gründe die Rücküberstellung in einen anderen Mitgliedstaat mit der Folge, dass das Hauptsacheverfahren in Deutschland von dort aus betrieben werden muss, unzumutbar erscheinen lassen.

b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruht auf der Auffassung, ein Verstoß gegen Art. 5 Dublin-III-VO sei nach § 46 VwVfG stets unbeachtlich. Diese Rechtsmeinung ist weder durch die EuGH-Rechtsprechung im Sinne einer Übereinstimmung mit dem Unionsrecht geklärt, noch handelt es sich um einen acte clair oder um einen acte eclaire. Unionsrechtlich spricht nach den den Drittschutz von Bestimmungen der Dublin-III-VO stärkenden Entscheidungen des EuGH vom 7. Juni 2016 (C-63/15 - Ghezelbash -, juris, Rn. 34 ff. und C-155/15 - Karim -, juris, Rn. 19 ff.) vielmehr manches dafür, dass das erstmals in der Dublin-III-VO eingeführte obligatorische persönliche Gespräch mit dem Asylbewerber für die Frage der Rechtmäßigkeit des Bescheids beachtlich ist. Denn in einem solchen Gespräch können sowohl die Voraussetzungen für vorrangige Zuständigkeitsgründe nach Art. 8 ff. Dublin-III-VO als auch für eine Ausübung des Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin-III-VO geklärt werden (vgl. Erwägungsgrund 17 und 18 der Dublin-III-VO). Es greift zu kurz, wenn das Verwaltungsgericht auf die allgemeine Anwendbarkeit des nationalen Verfahrensrechts einschließlich des § 46 VwVfG beim nationalen Vollzug von Unionsrecht hinweist. Dies beantwortet gerade nicht die hier interessierende Frage, inwieweit Art. 5 Dublin-III-VO mit der in Absatz 2 enthaltenen Normierung von Fallgruppen, in.denen von dem Gespräch abgesehen werden darf, eine spezielle und insoweit abschließende Regelung des Verfahrens darstellt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung umstritten ist (vgl. etwa abweichend und auf die europarechtliche Klärungsbedürftigkeit hinweisend VG Frankfurt <Oder>), Beschluss vom 22. September 2016 - VG 2 L 300116.A -, juris, Rn. 31; VG Cottbus, Beschluss vom 21. Oktober 2016 - 1 L 397/16.A -, juris, Rn. 15), läuft deshalb Gefahr, die praktische Wirksamkeit von Art. 5 Dublin-III-VO in Frage zu stellen. Es ist im Übrigen gerade im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, dass nach einem Gespräch mit dem Beschwerdeführer, in dem dieser seine schwer behandelbare Krankheit geschildert hätte, das Bundesamt von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht hätte. Unabhängig von der Frage, ob dem Flüchtling insoweit ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zusteht, dürfte dann jedenfalls für die Anwendung des § 46 VwVfG kein Raum mehr bestehen.

Stand mithin (zumindest) eine ungeklärte unionsrechtliche Rechtsfrage im Raum, bei der im Hauptsacheverfahren eine Vorlage an den EuGH nahelag, hätte sich das Verwaltungsgericht nicht mit einer summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten zufrieden geben dürfen, sondern hätte darüber hinaus eine Interessenabwägung unter besonderer Berücksichtigung der Situation des Beschwerdeführers bei einer Abschiebung nach Bulgarien durchführen müssen. In die Abwägung wäre unter anderem einzustellen gewesen, dass der Beschwerdeführer einen durch Unverträglichkeitsreaktionen komplizierten Krankheitsverlauf vorgetragen hat und die medizinische Versorgung von Flüchtlingen in Bulgarien, auch wenn sie nach Auffassung des Verwaltungsgerichts noch nicht den Schluss auf systemische Mängel zulässt, für schwerwiegend erkrankte Flüchtlinge erhebliche Lücken aufweist. Ob es dem Beschwerdeführer vor diesem Hintergrund zumutbar war, das Hauptsacheverfahren aus Bulgarien und dort nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts gegebenenfalls aus der Obdachlosigkeit oder Haft heraus weiter zu betreiben, hätte genauerer Begründung bedurft.

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob auch die weitere Frage, wann der Asylantrag europarechtlich als gestellt gilt und wann deshalb die Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs gemäß Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO oder des Wiederaufnahmegesuchs gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO in Verbindung mit Art. 9 der Eurodac-VO zu laufen beginnt, klärungsbedürftig im Sinne des Art. 267 AEUV ist. […] Die Auffassungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu dem Beginn der Frist für die Stellung des Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuchs des ersuchenden an den ersuchten Mitgliedstaat sind geteilt (vgl. VG Köln, Beschluss vom 16. August 2016 - 20 L 1609/16.A -, juris einerseits und VG Minden, Beschluss vom 24. August 2016 - 1 L 1299/16.A -, juris andererseits). Für einen Fristbeginn schon mit dem Vorliegen eines Asylantrags im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG und nicht erst mit der den Anforderungen des § 14 AsylG genügenden Antragstellung könnte jedoch das Ziel der Dublin-III-VO sprechen, eine möglichst schnelle, an enge Fristen gebundene Klärung des zuständigen Mitgliedstaats zu erreichen (vgl. Erwägungsgrund 5 der Dublin-III-VO).

3. Hat die Verfassungsbeschwerde schon wegen des Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Erfolg, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Nichtübertragung des Verfahrens auf die Kammer nach § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG einen Verstoß gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters begründet. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar sein dürfte, wenn ein Einzelrichter der Kammer von der Rechtsprechung eines anderen Kammermitglieds zu einer grundsätzlich klärungsfähigen Rechtsfrage entscheidungserheblich abweicht, anstatt die Frage auf die Kammer zu übertragen. Die Pflicht zur Rückübertragung auf die Kammer gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 AsylG wird dann in nicht mehr vertretbarer Weise gehandhabt.

Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die pauschale Annahme, Tuberkulose sei in Osteuropa weit verbreitet und mithin behandelbar, angesichts des schweren Krankheitsverlaufs bei dem Beschwerdeführer und der vom Verwaltungsgericht selbst angenommenen schwierigen Erreichbarkeit von medizinischer Behandlung in Bulgarien den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG genügte. [...]