OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.09.2016 - 3 S 42.16 - asyl.net: M24583
https://www.asyl.net/rsdb/M24583
Leitsatz:

Begehren die Geschwister eines im Bundesgebiet lebenden Flüchtlings im Wege vorläufigen Rechtsschutzes unter Vorwegnahme der Hauptsache ein Visum nach § 32 Abs. 1 AufenthG zum Nachzug zu ihren bereits in das Bundesgebiet eingereisten Eltern, setzt die Annahme einer Ausnahme von der nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gebotenen Sicherung des Lebensunterhaltes u.a. voraus, dass die Eltern längerfristig über einen Aufenthaltstitel verfügen werden, der ein Recht zum Kindernachzug vermittelt. Das ist regelmäßig nicht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, wenn der Flüchtling volljährig geworden ist und ein Elternteil bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Folgeantrag gestellt hat, dessen Ausgang offen ist. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber den Familiennachzug von Schutzsuchenden nach § 104 Abs.13 AufenthG eingeschränkt hat (klarstellende Ergänzung zu dem Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2015 - OVG 3 S 95.15).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Kindernachzug, minderjährig, Volljährigkeit, anerkannter Flüchtling, Familiennachzug, Geschwister, Sonstige Familienangehörige, Geschwisternachzug, Prozesskostenhilfe, vorläufiger Rechtsschutz, nationales Visum, Visum, Aufenthaltstitel, Sicherung des Lebensunterhalts, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, atypischer Ausnahmefall, Familienflüchtlingsschutz, Familienzusammenführungsrichtlinie, Familienzusammenführung, Aussetzung, Beschränkung Familiennachzug, Qualifikationsrichtlinie, Familienangehörige, Achtung des Familienlebens, Kinderrechtskonvention, außergewöhnliche Härte, Härtefall, Wohnraumerfordernis,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs.1 Nr. 1, AufenthG § 104 Abs. 13, AuenthG § 36 Abs. 2, AufenthG § 36 Abs. 1, AufenthG § 29 Abs. 1 Nr. 1, GG Art. 6, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7,, GR-Charta Art. 24 Abs. 2, GR-Charta Art. 24 Abs. 3, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3 Bst. a,
Auszüge:

[...]

Die Einwendungen der Beschwerde gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Lebensunterhalt gesichert ist, sei nicht erfüllt und die Voraussetzungen eines Ausnahmefalles lägen nicht vor, greifen nicht durch.

Entgegen ihrer Auffassung können die Antragsteller hier keinen atypischen Fall aus dem Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2015 - OVG 3 S 95.15 - ableiten. [...]

Eine derartige Ausnahme von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist hier auch unter Berücksichtigung des Schutzes von Ehe und Familie nicht mit der eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht. Sowohl verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen als auch atypische Umstände des Einzelfalls, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, können eine gerichtlich voll überprüfbare Ausnahme vom Regelfall rechtfertigen. Sowohl die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung als auch Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 i.V.m. Art. 24 Abs. 2 und 3 GR-Charta verpflichten beim Kindernachzug in Fällen, in denen die Voraussetzungen für ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach der Richtlinie nicht vorliegen und den Mitgliedstaaten ein Handlungsspielraum verbleibt, bei dessen Ausfüllung den Schutz der Familie und das Recht auf Familienleben zu achten und dabei insbesondere das Kindeswohl angemessen zu berücksichtigen. Ob bei Berücksichtigung dieser rechtlichen Vorgaben die Verweigerung eines Visums unverhältnismäßig ist, hängt vor allem davon ab, welche Folgen diese Entscheidung für das Wohl der zur Kernfamilie gehörenden Kinder hat und ob die Familie darauf verwiesen werden kann, die angestrebte familiäre Lebensgemeinschaft in dem gemeinsamen Herkunftsland zu führen, oder ob dem Hindernisse oder sonstige erhebliche Belange der Familie entgegenstehen (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 24 f.).

Gemessen daran ist hier zunächst zu beachten, dass sich die Eltern der Antragsteller in Kenntnis des Umstandes, dass ihr ältester Sohn am 4. Juni 2016 das 18. Lebensjahr vollendet, entschieden haben, zu dessen Betreuung am 12. April 2016 in das Bundesgebiet einzureisen und die Antragsteller in der Obhut einer befreundeten Familie in ihrem Herkunftsland zurückzulassen. Der Anspruch der Eltern auf Nachzug zu einem im Bundesgebiet lebenden unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach § 36 Abs. 1 AufenthG besteht jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Kind volljährig wird. Das Nachzugsrecht der Eltern, das seine Grundlage in Art. 10 Abs. 3 Buchstabe a) der Richtlinie 2003/86/EG hat, dient (allein) dem Schutz des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings und seinem Interesse an der Familieneinheit mit seinen Eltern, nicht jedoch eigenständigen Interessen der Eltern am Zusammenleben mit dem Kind. Dies zeigt sich auch darin, dass das Aufenthaltsgesetz den nachgezogenen Eltern mit Erreichen der Volljährigkeit des als Flüchtling im Bundesgebiet lebenden Kindes grundsätzlich kein eigenständiges Aufenthaltsrecht eröffnet (BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 - 10 C 9.12 - juris Rn. 12 und Rn. 18 ff.). Die Eltern der Antragsteller mussten daher bereits bei ihrer Einreise damit rechnen, dass die Rechtsgrundlage für ihren Aufenthalt entfällt und sie das Bundesgebiet wieder verlassen müssen.

Die Antragsteller haben auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht mit der eine Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht, dass ihre Eltern nach dem Ende der Geltungsdauer der zeitlich befristeten Aufenthaltserlaubnisse ein Aufenthaltsrecht beanspruchen können, das ihnen weiterhin einen Anspruch auf Kindernachzug vermitteln kann. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Behauptung, ihren Eltern werde mit Sicherheit die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Bei ihrer Mutter lässt sich dies nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand schon deshalb ausschließen, weil die Antragsteller nicht geltend machen, ihre Mutter habe einen Asylantrag gestellt.

In Bezug auf ihren Vater haben sie zwar durch Vorlage der Ablichtung des Antrags vom 9. Mai 2016 glaubhaft gemacht, dass dieser bei dem zuständigen Bundesamt einen Folgeantrag gestellt hat. Es ist jedoch nicht hinreichend gewiss, welchen Erfolg dieser Antrag haben wird. Der mit der Beschwerde in Ablichtung vorgelegte Bescheid vom 19. Mai 2016 gibt zwar einen Hinweis darauf, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Voraussetzungen, unter denen ein Folgeantrag zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führen kann, auch bei dem Vater der Antragsteller bejahen könnte. Dem Bescheid lässt sich jedoch auch entnehmen, dass dies nicht zwingend zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen wird, denn nach dem Bescheid wurde der dortige Antragsteller nicht mehr – wie noch der Bruder der Antragsteller – im schriftlichen Verfahren anerkannt, sondern persönlich angehört und sein Vorbringen gewürdigt. In diesem Bescheid wird darüber hinaus auch angenommen, dass sich die Lage im Irak permanent ändert. Schon daher lässt es sich nicht ausschließen, dass der Antrag erfolglos bleibt, beispielsweise, weil das Bundesamt die verfolgte Gruppe enger fasst, als die Antragsteller annehmen, die nach ihrem Geburtsort Zakho nicht zu der Gruppe der Yeziden aus dem Raum Mosul zählen, auf die der Senat in seinem Beschluss vom 21. Dezember 2015 - OVG 3 S 95.15 - abgestellt hat, oder weil es annimmt, der Vater der Antragsteller könne internen Schutz finden. Schließlich könnte auch die vom Verwaltungsgericht angesprochene Variante eintreten, dass dem Vater der Antragsteller nicht die Flüchtlingseigenschaft, sondern nur der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird, mit der Folge, dass der Familiennachzug nach § 104 Abs. 13 AufenthG zunächst für zwei Jahre ausgesetzt wäre. Diese Änderung der Rechtslage durch das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I S. 390) ist im Vergleich zum Vorjahr ein weiterer Umstand, der in einem Eilverfahren, das unter Vorwegnahme der Hauptsache auf Visa zum Zwecke der Familienzusammenführung gerichtet ist, die Annahme es könne zur Flüchtlingsanerkennung kommen, als weniger sicher erscheinen lässt.

Unter diesen Umständen muss es den Antragstellern zugemutet werden, das Hauptsacheverfahren abzuwarten. [...]