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VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 25.11.2016 - M 16 K 16.30301 - asyl.net: M24578
https://www.asyl.net/rsdb/M24578
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für HIV-infizierte Person aus Russland:

1. HIV/AIDS ist in der ganzen Russischen Föderation einschließlich der Republik Tschetschenien (in der Hauptstadt Grosny) behandelbar.

2. Eine HIV-Infektion im Stadium A2, noch bevor Krankheitssymptome oder Erkrankungen auftreten, dauert in aller Regel mehrere Jahre an, so dass auch ohne Behandlung bei Rückkehr ins Herkunftsland keine schweren gesundheitlichen Schäden drohen würden.

3. Die Behandlung ist für die Klägerin auch zugänglich. Sie könnte eine kostenfreie Behandlung erhalten, wenn sie als Invalidin anerkannt wird. Auch besteht die Möglichkeit, Medikamente selbst zu erwerben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: HIV/AIDS, Russische Föderation, medizinische Versorgung, Tschetschenien, Grosny, Behandlung, Rückkehr, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, medizinische Versorgung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Zu diesem maßgeblichen Zeitpunkt haben die Kläger keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und /oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Im Fall der Klägerin zu 2) liegen die Voraussetzungen eines solchen krankheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Sätze 1 bis 4 AufenthG jedoch nicht vor. Von einem Abbruch der lebenslangen notwendigen Dauertherapie der Klägerin zu 2) ist auch im Fall einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht auszugehen. Nach Überzeugung des Gerichts liegen im Herkunftsland der Klägerin zu 2) ausreichende Behandlungsmöglichkeiten vor, um eine wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustands verhindern zu können. Das Gericht kann im Gegensatz zum vorgeschalteten Eilverfahren im nunmehr zu entscheiden Hauptsacheverfahren diesbezügliche konkrete und verlässliche Aussagen treffen. [...]

An die vorstehenden Ausführungen anknüpfend weist die vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen aus, dass sich die HIV-Infektion der Klägerin mit der Klassifikation CDC A2 noch nicht in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung befindet. Denn die (klinische) Kategorie "A" der CDC-Klassifikation erfasst die Fälle einer noch asymptomatischen HIV-Infektion, d.h. die Fälle, in denen der Betroffene zwar infiziert ist, aber Krankheitssymptome oder Erkrankungen, die der HIV-Infektion ursächlich zuzuordnen sind oder auf eine Störung der zellulären Immunabwehr hinweisen (Kategorie "B"), noch nicht aufgetreten sind. Bei "natürlichem" Verlauf einer HIV-Infektion, d.h. ohne Durchführung einer hochaktiven antiretroviralen Therapie, dauert das Stadium "A" in aller Regel mehrere Jahre an. Schon danach drohten der Klägerin für den Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation unabhängig von der Frage, ob ihre Erkrankung dort behandelt und insbesondere die im Bundesgebiet aufgenommene antiretrovirale Therapie fortgeführt werden kann, keine schweren gesundheitlichen Schäden, die alsbald auftreten würden (vgl. VG Münster, U. v. 28.1.2008 - 9 K 45/06.A - juris Rn. 42). [...]

Ferner ist nach einer Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Moskau (Geschäftszeichen RK 516.80 - 37.226) vom 29. Februar 2016 HIV im gesamten Gebiet der Russischen Föderation behandelbar. Zur Behandlung stehen spezielle Zentren zur Verfügung. Auch in der Republik Tschetschenien, in der Hauptstadt Grosny, gibt es ein staatliches "Zentrum zur Prophylaxe und Behandlung von Aids". Weiterhin wurde für die Republik Tschetschenien ein Mehrbetrag in Höhe von 48,6 Millionen Rubel für das Haushaltsjahr 2016 bereitgestellt, um unter anderem die Behandlung von HIV-Infizierten zu verbessern. Nach Erkenntnissen der Botschaft ist es gängige Praxis in der Russischen Föderation, Medikamente, auch solche gegen HIV, über Internetapotheken aus verschiedenen Ländern zu bestellen und zu beziehen. Um in den Genuss einer kostenfreien Behandlung und Medikation kommen zu können, muss ein Patient eine Invalidität beantragen. [...]

Die Klägerin zu 2) kann in ihrer Heimat, der Republik Tschetschenien, in der Hauptstadt Grosny medizinische Hilfe erhalten. [...]

Nach dem von den Klägern eingebrachtem Erkenntnismittel werde eine medizinische Behandlung von HIV-Infizierten in der Russischen Föderation regelmäßig nicht verweigert. Daher wird auch die Klägerin zu 2) bei einer Rückkehr in die Russische Föderation bzw. in die Republik Tschetschenien behandelt werden. Auch wenn nach weiteren Erkenntnismitteln der Kläger die Zahl der HIV-Infizierten in der Russischen Föderation rasch wächst, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Klägerin keine Behandlung erfahren werde. Nach einem von den Klägerin eingebrachten Bericht auf der Website avert.org mit dem Titel "Russian HIV epidemic reaches one million" hat die Russische Föderation die Behandlung von HIV-Infizierten erheblich ausgeweitet. Die Regierung der Russischen Föderation hat nach Auskunft der deutschen Botschaft in Moskau für das Haushaltsjahr 2016 neue finanzielle Mittel bereitgestellt, um auch die Behandlungsmöglichkeiten für HIV-Infizierte zu verbessern. Mag der bereitgestellte Betrag auf einzelne Personen heruntergerechnet in der Republik Tschetschenien gering sein, so bedeutet die Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Mittel dennoch eine Verbesserung der Situation angesichts einer wachsenden Zahl von HIV-Infizierten. Nach aktuellem Wechselkurs entspricht der für die Republik Tschetschenien bereitgestellte zusätzliche Betrag von 48,6 Millionen Rubel rund Euro 700.000,00, allein für das Haushaltsjahr 2016.

Es bestehen aus Sicht des Gerichts keine Anhaltspunkte dafür, dass für eine Behandlung der Klägerin zu 2) erforderliche Medikamente nicht zur Verfügung stünden. Es mag sein, dass entsprechend einem von den Klägern benannten Erkenntnismittel eine (wohl) kostenfreie Abgabe von Medikamenten erst ab einem erniedrigten Wert von CD4-Helferzellen erfolge, den die Klägerin zu 2) nicht erfüllt. Gleichwohl existiert nach der Auskunft der deutschen Botschaft in Moskau die Möglichkeit Medikamente selbst zu erwerben. Anzeichen, dass die Klägerin zu 2) erforderliche Medikamente etwa aus Kostengründen nicht erwerben könne, existieren nicht. Dem Vortrag der Kläger ist auch nicht zu entnehmen, dass diese nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um Medikamente - etwa über eine Internetapotheke - zu erwerben. Auch das Gericht hat keine Erkenntnisse, dass die Kläger nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. So haben die Kläger beispielsweise keinen Prozesskostenhilfeantrag gestellt, der für eine angespannte finanzielle Läge spräche. Gleichwohl besteht darüber hinaus durchaus die aus Sicht des Gerichts realistische Möglichkeit, dass die Klägerin zu 2) in den Genuss einer kostenfreien Behandlung kommt, wenn sie eine Invalidität beantragt und genehmigt bekommt. Abgesehen von dem Bericht auf der Website Russia beyond the Headlines sind dem Gericht nämlich keine Erkenntnisse bekannt, die bestätigen, dass eine Behandlung mit Medikamenten erst ab einem bestimmten Wert von CD4-Helferzellen stattfände. [...]