VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 24.11.2016 - 36 K 50.15 A (Asylmagazin 3/2018, S. 84 ff.) - asyl.net: M24491
https://www.asyl.net/rsdb/M24491
Leitsatz:

1. Kein Widerruf des Schutzstatus eines Kurden aus der Türkei, da politisch aktiven Kurden aufgrund der dortigen politischen Entwicklungen (sowohl vor als auch nach dem Putschversuch) die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht.

2. Obwohl der Betroffene 2006 und 2007 freiwillig in die Türkei gereist war und einen türkischen Pass ausgestellt bekommen hat, ist ein Widerruf nicht gerechtfertigt.

 

(Leitsätze der Redaktion; laut Einsender ständige Rechtsprechung der Kammer)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Widerruf, subsidiärer Schutz, Putschversuch, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Folter, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylG § 73b, AsylG § 73c, AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen eines Widerrufs nach diesen Vorschriften sind nicht erfüllt. Die Umstände, die materiell zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes und zur Feststellung von Abschiebungsverboten geführt haben, sind nicht weggefallen.

Die Kammer ging in ständiger Rechtsprechung auch schon vor dem gescheiterten Putschversuch durch Teile des türkischen Militärs am 15. Juli 2016 davon aus, dass sich die politische Situation in der Türkei für politisch aktive Kurden, die sich im weiteren Umfeld der PKK engagiert haben, in den letzten Jahren nicht zum besseren, sondern eher noch zum schlechteren entwickelt hat (vgl. Urteile vom 8. Dezember 2015 - VG 36 K 231.11 A und vom 27. Januar 2016 - VG 36 K 70.14 A). Bereits im Frühjahr 2009 setzte in der Türkei eine Verhaftungswelle gegen kurdische Politiker, aber auch Kulturschaffende ein, die in den sogenannten KCK-Prozessen mündete, in denen viele der betroffenen Personen mit Prozessen überzogen und jahrelang zu Unrecht in Untersuchungshaft festgehalten wurden, ohne dass dabei rechtsstaatliche Standards eingehalten wurden. Die Strafverfahren gegen mutmaßliche KCK-Mitglieder werden weiter fortgesetzt (vgl. auch hierzu Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 8. Dezember 2015 - VG 36 K 231.11 A unter Verweis auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. September 2015, S. 5, 8). Seit April 2009 wurden in diesem Rahmen bereits über 2.000 Personen in allen Landesteilen verhaftet und zum Teil bereits verurteilt (vgl. ebenda, auch zum Folgenden). Seither gab es weitere Verhaftungswellen, bei denen unter anderem Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert wurden. Zuletzt wurden Ende November 2015 zwei bekannte Journalisten (Can Dündar und Erdem Gül, siehe Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel vom 26. November 2015) inhaftiert, der bekannte Menschenrechtsanwalt Tahir Elci (der noch im Jahre 2009 dem erkennenden Gericht über die Menschenrechtslage in der Türkei berichtet hat) wurde auf offener Straße von unbekannten Personen erschossen, nachdem gegen ihn ebenfalls - zum wiederholten Mal - diverse Strafverfahren eingeleitet worden waren.

Dies zeigt, dass die derzeitige Regierung der Türkei auch schon vor dem Putschversuch gegen vermeintliche Gegner ohne jede Rücksicht vorgegangen ist und sich dabei nicht im Rahmen rechtsstaatlicher Maßnahmen hält (vgl. dazu ebenfalls den Lagebericht vom 29. September 2015, S. 8, 11; Bericht der Europäischen Kommission S. 23). Missliebige Personen, darunter Journalisten, werden im Rahmen von Großverfahren mit Anklagen überzogen, ohne dass es eine ernsthafte Möglichkeit gibt, dagegen vorzugehen. Lange Untersuchungshaftzeiten sind dabei nicht selten.

Schon seit Ende 2015 sind in den Südosten der Türkei (d.h. die kurdisch geprägten Gebiete) bürgerkriegsähnliche Zustände .zurückgekehrt (vgl. dazu die Frankfurter Rundschau vom 19. Januar 2016). Wer zum Frieden aufruft, läuft Gefahr unter "Terrorverdacht" verhaftet zu werden (vgl. Spiegel-Online vom 15. Januar 2016 "Erdoğan hetzt Wissenschaftlern Polizei auf den Hals").

Auch die Meinungs- und Pressefreiheit wurde in den vergangenen Jahren durch Strafverfahren gegen Journalisten und Schriftsteller immer weiter eingeschränkt, so dass sich die Türkei mittlerweile in der Rangliste zur Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" auf dem Platz 122 befindet, hinter Russland und nur knapp vor Mexiko, Pakistan und Afghanistan (Lagebericht 2011, S. 10). Ein ebenso negatives Bild zeichnet schon der Fortschrittsbericht der Europäischen Union vom 10. Oktober 2012 (siehe S. 19 ff., 70 ff.). Der Fortschrittsbericht konstatiert, dass es weiterhin Fälle von Folter und Misshandlung durch Sicherheitskräfte innerhalb und vor allem außerhalb offizieller Orte gibt und die Täter weiterhin straflos bleiben (S. 72).

Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Reaktion des türkischen Staates auf die öffentlichen Proteste um den Gezi-Park im Frühjahr und Sommer 2013 von einer grundlegenden Missachtung der Menschenrechte und einer überharten Strafverfolgung (Politmalus) jeglicher politischer Delikte zeugen (vgl. dazu Verwaltungsgericht Berlin, Urteil vom 10. September 2013, VG 36 K 72.13 A).

Eine weitere erhebliche Verschärfung der Lage ist nach dem Putschversuch seit Juli 2016 eingetreten. Die türkische Regierung hat hierauf am 21. Juli 2016 mit der Ausrufung des Notstands reagiert. Dadurch wurde die Rechtsgrundlage dafür geschaffen, den Gebrauch der Grundrechte und -freiheiten der türkischen Bevölkerung teilweise oder vollständig auszusetzen. Per Rechtsverordnung mit Gesetzeskraft wurden eine Woche nach dem gescheiterten Putschversuch 2.341 Institutionen wie Privatschulen, gemeinnützige Einrichtungen, Gewerkschaften, Universitäten und medizinische Einrichtungen aufgelöst. Stand Anfang November 2016 wurden insgesamt 110.000 Beamte, Soldaten, Polizisten und Richter suspendiert oder inhaftiert. Die Notstandsregelungen boten und bieten die Grundlage für Massenverhaftungen (tagesschau.de vom 6. November 2016 "Weit weg von Europa"). Die Höchstdauer der Untersuchungshaft wurde durch Dekret des Präsidenten von vier auf dreißig Tage erhöht, für fünf Tage lang darf in der Untersuchungshaft nun der Kontakt zu einem Rechtsanwalt verboten werden (Spiegel online vom 24. Juli 2016 "Amnesty International berichtet von Folter"). Menschenrechtsorganisationen klagen darüber, dass die Notstandsbefugnisse als Blankoscheck für Polizei und Behörden dienen, Gefangene zu misshandeln und zu foltern. Es herrsche ein allgegenwärtiges Klima der Angst und Unterdrückung (vgl. etwa Bericht von Human Rights Watch vom 24. Oktober 2016 "A blank check", Spiegel online vom 24. Juli 2016 "Amnesty International berichtet von Folter"). Schon in der ersten Woche nach dem gescheiterten Putsch häuften sich Berichte von behandelnden Ärzten und Anwälten, dass es an den Orten, an denen Menschen festgehalten werden, zu Gewalt kommt. Amnesty International beklagt einen generellen Rückfall in die Praxis des Folterns (vgl. Spiegel-Online vom 24. September 2016 "Praxis des Folterns"). Begünstigt wird diese Entwicklung offenkundig durch die Ausschaltung einer unabhängigen und funktionsfähigen Justiz: Mehr als ein Fünftel aller Richter und Staatsanwälte wurden seit Juli 2016 entweder suspendiert oder selbst ins Gefängnis gebracht (vgl. ebenfalls Spiegel-Online vom 24. September 2016 "Praxis des Folterns"),

Insbesondere für politisch aktive Kurdinnen und Kurden hat sich die Situation seitdem weiter erheblich verschlechtert. So wurden Anfang November 2016 die beiden Ko-Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Kurden-Partei HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ im Rahmen vermeintlicher Terrorermittlungen festgenommen, das gleiche Schicksal ereilte eine Anzahl weiterer Abgeordneter der HDP. Nahezu jedes politische Engagement von Kurdinnen und Kurden wird von der türkischen Regierung in die Nähe der PKK gerückt und als Terrorismus diskreditiert (vgl. dazu Frankfurter Rundschau vom 4. November 2016 "Jagd auf Kurdenpolitiker"). Die Lage in den Kurdenprovinzen hat sich ebenfalls erheblich verschärft, seit die türkische Regierung in den letzten Monaten seit dem Putschversuch nunmehr noch intensiver die militärische Ausschaltung von Guerillagruppen der PKK in Süd- und Ostanatolien verfolgt. Das türkische Militär setzt dabei auch in Wohngebieten schwere Waffen ein (vgl. Spiegel-Online vom 24. September 2016 "Praxis des Folterns"). Viele Orte sind im Zuge der Militäroffensive völlig zerstört worden, nach offiziellen Zahlen sind etwa in der kurdischen Stadt Şırnak 2000 Gebäude zerstört worden, zwischen 70.000 und 90.000 Menschen haben die Stadt wegen der Kämpfe verlassen, dies entspricht zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17. November 2016 "Die Kurden verlieren ihre Heimat").

Vor diesem Hintergrund ist wieder und weiter.hin zu befürchten, dass der Kläger in . der Türkei der Gefahr der Folter oder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre. Obwohl der Kläger in den vergleichsweise friedlicheren Jahren 2006 und 2007 freiwillig in die Türkei gereist war und auch einen türkischen Pass ausgestellt bekommen hat, ist nach der zwischenzeitlich eingetretenen erheblichen Verschärfung der Lage bis zum und im Zeitpunkt der hier nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen mündlichen Verhandlung im November 2016 davon auszugehen, dass die Zustände, die im Jahr 2004 materiell zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, weiterhin bestehen und dass ein solcher Schutz weiterhin erforderlich ist (vgl. § 73 b Abs. 1 Satz 1 AsylG) beziehungsweise dass die Voraussetzungen von Abschiebungsverboten weiterhin vorliegen (§ 73 c Abs. 2 AsylG).

Der Kläger ist aufgrund seiner exponierten, zum Gegenstand der Fernsehberichterstattung gewordenen Beteiligung an den Ausschreitungen vor dem israelischen Generalkonsulat im Jahr 1999 in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten (vgl. dazu die ausführlichen Feststellungen im Urteil der Kammer vom 29. September 2004 - VG 36 X 198.00, Seite 8 ff.). Dass es in einem solchen Falle bei einer Rückkehr in die Türkei weiterhin jedenfalls zu längeren Verhören mit politischer Tendenz, womöglich auch zu einer Überstellung des oder der Betreffenden an die Polizei und eine zumindest vorübergehende Ingewahrsamnahme kommen wird, erscheint dem Gericht angesichts der aktuellen Lage in der Türkei weiterhin beachtlich wahrscheinlich. Dass die in Deutschland lebenden und politisch in Erscheinung getretenen Kurden gerade jüngst besonders in das Blickfeld der türkischen Regierung gerückt sind, wurde durch den Auftritt des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu beim Empfang des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier in Ankara am 14. November 2016 deutlich. Dieser warf der Bundesrepublik Deutschland vor, tausende Mitglieder der verbotenen PKK zu beherbergen (vgl. Tagesspiegel vom 15. November 2016 "Türkischer Außenminister attackiert Steinmeier") und ein "Zufluchtsort für PKK-Terroristen und Anhängern des geisteskranken Predigers Fethullah Gülen" zu sein (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2016). Dies zeigt, dass die türkische Regierung auch nach vielen Jahren keineswegs das Interesse daran verloren hat, der in Deutschland lebenden politisch in Erscheinung getretenen Kurden habhaft zu werden. Bei dieser Sachlage ist dem Kläger eine Rückkehr in die Türkei nicht zuzumuten. [...]