1. Stellt eine Familie mit Kindern gemeinsam einen Asylantrag und erhält sie eine einheitliche Überstellungsentscheidung, bilden die Familienmitglieder im gerichtlichen Verfahren notwendige Streitgenossen.
2. Ein isolierter Antrag eines einzelnen Familienmitglieds ist mangels Prozessführungsbefugnis unzulässig.
3. Aus Art. 20 Abs. 3 VO (EU) Nr. 604/2013 [Dublin-III-VO] ergibt sich ein sonstiger Grund i.S.d. § 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 ZPO für die Notwendigkeit einer Streitgenossenschaft zwischen Kind und Eltern.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Im Falle einer echten notwendigen Streitgenossenschaft i.S.d. § 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 (2. Alternative) ZPO kann ein verwaltungsgerichtliches Streitverfahren nur gemeinsam von allen Streitgenossen erhoben werden (BVerwGE 66, 266-268 für die Verpflichtungsklage eines Ehegatten auf Änderung des gemeinsamen Familiennamens; BVerwG, Urteil vom 7. September 1979 – IV C 7.77 – BRS 35 Nr. 15 für einen gemeinsam gestellten Baugenehmigungsantrag; BVerwGE 133, 192 ff. für mehrere Sozialleistungsträger bei Klage gegen Schiedsspruch über Pflegesatzvereinbarung; zu schulrechtlichem Rechtsstreit bei gemeinsamem Sorgerecht OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. August 2011 – OVG 3 S 93.11 – NVwZ-RR 2011, 983 und Nds. OVG, Beschluss vom 29. Juni 1981 - 13 B 27/81 -, NVwZ 1982, 321). Wird die Klage oder der Antrag nur von einem notwendigen Streitgenossen angebracht, fehlt ihm die Prozessführungsbefugnis (BVerwGE 66, 266-268; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. August 2011 – OVG 3 S 93.11 – a.a.O.: Antragsbefugnis).
Nach § 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 ZPO ist eine Streitgenossenschaft notwendig, wenn das streitige Rechtsverhältnis allen Streitgenossen gegenüber nur einheitlich festgestellt werden kann oder die Streitgenossenschaft aus einem sonstigen Grund notwendig ist. Aus einem sonstigen Grund ist die Streitgenossenschaft notwendig, wenn die Sache aus materiellen Gründen einheitlich entschieden werden muss (BGHZ 131, 376ff.; Kopp/Schenke VwGO.-Komm. 21. Aufl. § 64 Rn. 7).
So verhält es sich hier. Über die Aufhebung einer Überstellungsentscheidung i.S.d. Art. 26 Abs. 1 VO (EU) Nr. 604/2013 kann ebenso wie über ihre Vollziehbarkeit nur einheitlich entschieden werden, wenn – wie hier – die Überstellung eines Antragstellers und eines mit ihm einreisenden minderjährigen Familienangehörigen inmitten steht.
Dafür streiten der Wortlaut, die in den Erwägungsgründen verlautbarten Ziele und die Systematik der Verordnung.
Insoweit ist bereits der Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 VO (EU) Nr. 604/2013 eindeutig. Danach ist für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist. Diese zwingende und allein unter dem Vorbehalt des Kindeswohls stehende Bestimmung garantiert, dass die Familieneinheit gewahrt bleibt.
Die Familieneinheit sicherzustellen, ist ein vorrangiges Ziel der Verordnung (EU) Nr. 604/2013. Das besondere Gewicht dieses Ziels unterstreichen die Erwägungsgründe 14 bis 18. Danach "sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedsstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden" (Nr. 14). Der 16. Erwägungsgrund postuliert "die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Familie und des Wohls des Kindes". Hierzu "sollte ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind, einem Geschwister oder einem Elternteil bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch Schwangerschaft oder Mutterschaft, durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden". Der 15. Erwägungsgrund betont, dass mit der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern eines Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedsstaat sichergestellt wird, dass die Anträge sorgfältig geprüft werden, diesbezügliche Entscheidungen kohärent sind und "dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden".
Zur Verwirklichung dieses Ziels sieht die Verordnung bereits im Vorfeld einer Überstellungsentscheidung Informationsrechte, die der Familienzusammenführung dienen (Art. 4), und ein besonderes Verfahren für Familien, die gemeinsam einen Antrag stellen (Art. 11 (EU) Nr. 604/2013) vor. Letzterenfalls ist es zwingend, dass die Zuständigkeitsbestimmung einheitlich für die gesamte Familie erfolgt. Selbst die Ermessensklauseln nach Art. 17 (EU) Nr. 604/2013 eröffnen eine zusätzliche Möglichkeit zur Familienzusammenführung.
Das Ziel der Familieneinheit würde aber konterkariert, wenn eine Überstellungsentscheidung gesondert mit der Folge angegriffen werden könnte, dass ihre einheitliche Vollziehung unter Wahrung des Familienverbandes gefährdet wäre. Diese Gefahr besteht zum einen deshalb, weil die in Art. 27 Abs. 3 (EU) Nr. 604/2013 vorgesehene aufschiebende Wirkung auf die "betroffene Person", also den Rechtsmittelführer beschränkt ist, so dass während des Rechtsbehelfsverfahrens andere Familienangehörige überstellt werden könnten. Zum anderen verlängert die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs die Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 1 (EU) Nr. 604/2013). Dies könnte zur Spaltung der Zuständigkeit für einzelne Familienmitglieder, u.U. für Kleinkinder, führen, was der vorliegende Fall augenfällig belegt.
In diesem unionsrechtlichen Kontext kommt es nicht darauf an, ob das nationale Recht des jeweiligen Mitgliedsstaates Bestimmungen kennt, die – wie etwa in Deutschland § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG - eine solche Folge auffangen könnten. Die Annahme, dass die Wahrung der Familieneinheit einzelstaatlichen Vorkehrungen überlassen bleiben sollte, verbietet sich angesichts der besonderen Bedeutung, welche "die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie" (vgl. 16. Erwägungsgrund) genießt, und damit wegen des Gebots des größtmöglichen Wirksamkeit (effet utile).
Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Eine Vorlagepflicht besteht hier nicht, denn die richtige Anwendung des Unionsrechts ist im Sinne der acte-claire-Doktrin (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - C-283/81 [ECLI:EU:C:1982:335], CILFIT - ) derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel an der Beantwortung der gestellten Frage keinerlei Raum bleibt. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist geklärt, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie allein Sache der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie (unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität) die Art und Weise der richterlichen Kontrolle zu bestimmen (EuGH, Urteil vom 24. April 2008 - C-55/06 - Rn. 170; vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 37/14 – NVwZ 2016, 161ff.).
Eine Vertretung der übrigen Familienmitglieder und Adressaten des im Klageverfahren 5 K 1398/16.A angefochtenen Bescheides folgt nicht aus § 64 VwGO i.V.m. § 62 Abs. 1 ZPO. Danach werden, wenn ein Termin oder eine Frist nur von einzelnen Streitgenossen versäumt wird, die säumigen Streitgenossen als durch die nicht säumigen vertreten angesehen. Die notwendige Streitgenossenschaft entsteht erst durch die gemeinsame Klageerhebung, so dass sich die Streitgenossen erst ab Klageerhebung vertreten können (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 1969 – VII C 86.67 – Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 3). Das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ist ein im Verhältnis zum Hauptsacheverfahren selbständiges Verfahrens (Kopp/Schenke VwGO.-Komm. 21. Aufl. § 80 Rn. 124 m.w.N.). Die vorgenannte Vertretungsregelung greift deshalb nicht. Erst Recht gilt das für das seinerseits gegenüber dem vorausgegangenen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO selbständige Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO. Eine Abänderung von Amts wegen für die übrigen Familienmitglieder, einschließlich der Eltern, scheidet vorliegend aus, weil bereits die erweiternde Auslegung des Antrags nach § 80 VwGO durch das Gericht ihrem im Nachgang ausdrücklich bekundeten Willen widersprach.
Eine Einbeziehung der übrigen Familienmitglieder vermittels Beiladung scheidet ebenfalls aus (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 28. März 2012 – W 6 K 11.363 – Juris Rn. 38 m.w.N.). [...]