VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 17.08.2016 - 7 K 6620/16.A - asyl.net: M24344
https://www.asyl.net/rsdb/M24344
Leitsatz:

1. Die Vorschrift des § 11 Abs. 7 Satz 1 Ziff. 2 AufenthG knüpft an die Annahme an, dass die wiederholte Stellung eines Asylfolgeantrages in diesen Fällen eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Asylverfahrens zu asylfremden Zwecken impliziert. Eine solche Annahme setzt jedoch voraus, dass bereits in einem früheren Verfahren durch das Bundesamt geprüft und festgestellt wurde, dass die betreffende Person keine Umstände vorgetragen hat, die im Anschluss an eine bestandskräftige Ablehnung eines Asylantrages ein erneutes Verfahren rechtfertigen. Hierfür muss eine inhaltlich Prüfung erfolgt sein. Dies ist nicht der Fall, sofern im vorherigen Verfahren lediglich die Durchführung des Asylverfahrens abgelehnt wurde, weil Deutschland nicht für den Asylantrag zuständig ist.

2. Bei der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind im Rahmen der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorrangig das Wohl betroffener Kinder und das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben der betroffenen Person besonders in den Blick zu nehmen.

3. Zwar stellt Art. 8 EMRK vorrangig (nur) das Familienleben von minderjährigen Kindern und ihren Eltern unter erhöhten Schutz. Ausnahmen können jedoch Vorliegen, wenn volljährige Familienangehörige (z.B. die Großeltern) auf das Zusammenleben und die Lebenshilfe von in Deutschland lebender Familienangehöriger angewiesen sind, und diese Lebenshilfe nur im Bundesgebiet erbracht werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einreise- und Aufenthaltsverbot, Sonstige Familienangehörige, familiäre Beistandsgemeinschaft, Lebenshilfe, Betreuung, Großeltern, Befristung,
Normen: AufenthG § 11, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

Die Vorschrift des § 11 Abs. 7 Satz 1 Ziff. 2 AufenthG knüpft an die Annahme an, dass die wiederholte Stellung eines Asylfolgeantrages in diesen Fällen eine missbräuchliche Inanspruchnahme des Asylverfahrens zu asylfremden Zwecken impliziert. Eine solche Annahme setzt jedoch voraus, dass bereits in einem früheren Verfahren durch das Bundesamt geprüft und festgestellt wurde, dass der Ausländer keine Umstände vorgetragen hat, die im Anschluss an eine bestandskräftige Ablehnung eines Asylantrages ein erneutes Verfahren rechtfertigen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 11 AufenthG Rdn. 186).

Das ist vorliegend nicht der Fall. Zwar hatte das Bundesamt auf den vorangegangenen Asylantrag des Klägers vom 27. Oktober 2009 bereits schon einmal die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt, so dass der erneute Asylantrag des Klägers vom 10. Juni 2015 wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat. Jedoch ist in dem auf den Antrag vom 27. Oktober 2009 aufgenommenen Verfahren gerade nicht inhaltlich geprüft und festgestellt worden, dass der Kläger keine Umstände vorgetragen hat, die ein erneutes Verfahren rechtfertigen können. Vielmehr ist die Durchführung des Asylverfahrens auf den Antrag vom 27. Oktober 2009 allein deswegen abgelehnt worden, weil die Bundesrepublik Deutschland für die Bearbeitung des Asylantrages nicht zuständig gewesen ist. Eine inhaltliche Prüfung der vorgetragenen Asylgründe darauf, ob sie die Durchführung eines weiteren Asylverfahren rechtfertigen, hat daher gerade nicht stattgefunden, so dass es sich nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 11 Abs. 7 Satz 1 Ziff. 2 AufenthG bei der vorliegenden mit dem streitgegenständlichen Bescheid erfolgten Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahren nicht um eine wiederholte Ablehnung i.S.d. § 11 Abs. 7 Satz 1 Ziff. 2 AufenthG handelt. Ob es sich bei dem neuerlichen Asylantrag des Klägers vom 10. Juni 2015 um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a AsylG handelt, kann letztlich offen bleiben. Es lässt sich nämlich mangels ausreichender Sachverhaltsermittlung durch das Bundesamt nicht feststellen, ob der in Ungarn gestellte Asylantrag nicht zur Durchführung eines Asylverfahrens geführt hat. Das Bundesamt hat weder ermittelt, ob der von dem Kläger in Ungarn gestellte Asylantrag überhaupt beschieden worden ist, noch zu welchem Ergebnis diese Prüfung geführt hat. Angesichts dieser fehlenden Ermittlungen kann auch nicht festgestellt werden, dass der möglicherweise als Zweitantrag i.S.v. § 71a AsylG zu wertende Antrag vom 10. Juni 2015 wiederholt nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens geführt hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich die im Ermessen des Bundesamtes stehende Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 7 AufenthG auch als ermessensfehlerhaft dar. [...]

Gem. § 11 Abs. 1 darf ein Ausländer, der u.a. abgeschoben worden ist, weder erneut in das Bundesgebiet einreisen, noch sich darin aufhalten, noch darf ihm, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, ein Aufenthaltstitel erteilt werden (Einreise- und Aufenthaltsverbot). Nach Abs. 2 der Vorschrift ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen. Nach Abs. 3 wird über die Länge der Frist nach Ermessen entschieden. Zwar werden in § 11 Abs. 3 AufenthG die im Rahmen der Befristung zu berücksichtigenden Belange – außer Belange der Gefahrenabwehr - nicht ausdrücklich genannt oder gar geregelt. Nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Richtlinie 2008/115/EG) wird die Dauer des Einreiseverbots aber in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt. Nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115/EG können die Mitgliedstaaten in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder eine Einreiseverbot aufheben oder aussetzen. Zudem ist in den vorangestellten Erwägungen dieser Richtlinie u.a. bestimmt, dass die Mitgliedstaaten in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 bei der Durchführung dieser Richtlinie insbesondere das "Wohl des Kindes" im Auge behalten sollen. In Übereinstimmung mit der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten soll bei der Umsetzung dieser Richtlinie außerdem der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden (Erwägungsgrund 22). Nach Maßgabe dessen ist davon auszugehen, dass bei der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG im Rahmen der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorrangig das Wohl betroffener Kinder und das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben des Ausländers besonders in den Blick zu nehmen sind.

Das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben hat das Bundesamt im Fall des Klägers bei der Bemessung der Frist ermessensfehlerhaft unberücksichtigt gelassen. [...]

Zwar stellt Art. 8 EMRK vorrangig (nur) das Familienleben von minderjährigen Kindern und ihren Eltern unter erhöhten Schutz. Die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln fallen aber nicht generell aus diesem Schutzbereich heraus (vgl. hinsichtlich der Erbfolge: EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979 – 6833/74 – juris).

Ausnahmen können auch Vorliegen, wenn volljährige Familienangehörige auf das Zusammenleben und die Lebenshilfe von in Deutschland lebender Familienangehöriger angewiesen sind, und diese Lebenshilfe nur im Bundesgebiet erbracht werden kann (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. April1989 – 2 BvR 1169/84 -, 12. Dezember 1989 -2 BvR 377/88 und 21. August 1995 – 1 B 119/95 -, juris).

Unter besonderen Schutz von Art. 8 EMRK kann daher auch die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln fallen, sofern bei diesen eine familiäre Verbundenheit besteht (vgl. zu Art. 6 GG: BVerfGE 136,382, Jarass/Pieroth, GG Kommentar, 14. Auflage 2016, Art. 6 Rdn 10). [...]