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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 - asyl.net: M24315
https://www.asyl.net/rsdb/M24315
Leitsatz:

1. Auch im Oktober 2016 leidet das gesamte Asylhaftsystem in Ungarn an so gravierenden Mängeln, dass die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO erfüllt sind und einem alleinstehenden männlichen Schutzsuchenden nicht zugemutet werden kann, in Ungarn ein Verfahren auf Gewährung internationalen Schutzes zu betreiben (Fortführung der Senatsrechtsprechung, vgl. Urteil vom 05.07.2016 - A 11 S 976/16 [asyl.net: M24054]).

2. Bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht oder nicht mehr zeitnah möglich ist, obliegt es dem Bundesamt substantiiert darzulegen, dass eine Überstellung doch noch zeitnah durchgeführt werden kann.

3. Ist davon auszugehen, dass - bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - innerhalb der nächsten 6 Monate bis zum Ablauf der Überstellungsfrist eine Überstellung nicht mehr durchgeführt werden kann oder werden wird, so ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

(Amtliche Leitsätze, Das Gericht stellt zudem fest, dass Ungarn das Refoulement-Verbot verletzt indem es Serbien als sicheren Drittstaat behandelt und macht Ausführungen zur Situation von Schutzsuchenden dort und in der Türkei.)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ungarn, systemische Mängel, Haft, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Dublin III-Verordnung, Beurteilungszeitpunkt, Abschiebungshaft, Inhaftierung, Asylhaft, Überstellung, Abschiebungsanordnung, Haftbedingungen, Selbsteintritt, effektiver Rechtsschutz,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, AsylG § 34a, EMRK Art. 5, EMRK Art. 13,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen des durch das Integrationsgesetz vom 31.07.2016 (BGBl I 1939) am 06.08.2016 in Kraft getretenen und auf den vorliegenden Rechtsstreit anzuwendenden § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.08.2016 - 1 C 6.16 -, juris) liegen nicht vor mit der Folge, dass auch die Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG zu Unrecht erlassen wurde und der Bescheid insgesamt aufzuheben ist (vgl. zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage zuletzt BVerwG, Urteil vom 27.04.2016 - 1 C 24.15 -, juris). Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) war Ungarn nicht der für die Durchführung des Verfahrens zuständige Mitgliedstaat. Denn eine Überstellung des Klägers nach Ungarn ist gem. § 3 Abs. 2 Dublin III-VO wegen dort bestehender systemischer Schwachstellen, die für ihn die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, nicht zulässig (vgl. I.). Ungeachtet dessen ist die Zuständigkeit jedenfalls übergangen, weil eine Überstellung bis zum Ablauf der Überstellungsfrist nicht mehr durchgeführt werden wird (II.).

I.

1. Die Zuständigkeit ergibt sich vorliegend aus Art. 3 Abs. 2 UA 2 und 3 i.V.m. Art. 17 Abs. 1 VO (EU) 604/2013 vom 26.06.2013 (im Folgenden Dublin III-VO). Diese Verordnung ist im Hinblick auf deren Art. 49 Abs. 2, zwar nicht anzuwenden für die Beurteilung, ob Ungarn bei der Einreise des Klägers dort zuständiger Mitgliedstaat war; sie ist im vorliegenden Fall allerdings hinsichtlich des Überstellungsverfahrens anzuwenden.

Zwar war der Kläger über Griechenland in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist, der Senat geht hier aber als gerichtsbekannt davon aus, dass Griechenland jedenfalls damals seinerseits systemische Schwachstellen aufgewiesen hatte (vgl. EGMR, Entscheidung vom 21.01.2011 -Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien -, NVwZ 2011, 413); das wurde von den Beteiligten auch zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Der Senat kann daher offen lassen, ob die Zuständigkeit Griechenlands nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO nicht ohnehin infolge der Ausreise aus dem Gebiet der Mitgliedstaaten (nach Mazedonien und Serbien) entfallen war, nachdem der Kläger dort keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte (vgl. weiterführend Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, § 27a Rn. 209). Ob eine Zuständigkeit anderer Mitglied- oder Vertragsstaaten bestand, kann offen bleiben, da sämtliche Fristen für die Stellung eines Übernahmeersuchens mittlerweile abgelaufen sind, zumal die Beklagte seit der Antragstellung über den Reiseweg im Wesentlichen informiert war.

2. Dass bereits in der Vergangenheit, aber namentlich auch zum heutigen Zeitpunkt, die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO vorliegen, ergibt sich aus Folgendem: [...]

b) Nach den vom Senat verwerteten Erkenntnismitteln (vgl. v.a. Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, Report by Nils Muiznieks vom 16.12.2014 Rn 148 ff. - im Folgenden CHR I; UNHCR, Anmerkungen und Empfehlungen des UNHCR zum Entwurf zur Änderung migrations- und asylbezogener sowie weiterer in diesem Zusammenhang stehender Vorschriften zwecks Rechtsharmonisierung vom 07.01.2015, S. 14 ff - im Folgenden UNHCR I) ist seit Jahren die Praxis der Verhängung von Abschiebungshaft bzw. einer Art von Sicherungshaft gegenüber Asylbewerbern durch schwerwiegende verfahrensrechtliche und inhaltliche Mängel gekennzeichnet und ist seit langer Zeit national wie auch v.a. international heftiger Kritik ausgesetzt (vgl. ausführlich CHR I, Rn. 151 insbesondere auch mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR zur Inhaftierungspraxis aus den Jahren 2011 und 2012; vgl. auch schon die deutliche, wenn auch diplomatisch eher zurückhaltend formulierte Kritik bei UN General Assembly - Human Rights Council - Report of the Working Group on Arbitrary Detention Mission to Hungary v. 03.07.2014, Rdn. 102 ff.). Diese Praxis ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass etwa seit dem Jahre 2010 die ganz überwiegende Zahl der Antragsteller inhaftiert wurde und die gerichtlichen Entscheidungen, auf denen die Inhaftierungen beruhten, vollständig intransparent waren und ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu dem individuellen Einzelfall standen. Hinzu kam, dass nach der früheren Rechtslage die Haftgründe in hohem Maße vage und unbestimmt formuliert waren und damit in besonderer Weise eine rechtsstaatlich unvertretbare gerichtliche Praxis begünstigten. Zwar wird für die Zeit bis zum Jahre 2014 zunächst von gewissen Verbesserungen gesprochen (vgl. CHR I, Rn. 153), was wohl zur Folge hatte, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 03.07.2014 (Nr. 71932/12) nicht mehr zu erkennen vermochte, dass das Inhaftierungssystem in Ungarn noch durch so schwerwiegende Mängel gekennzeichnet gewesen sei, dass die erfolgte Inhaftierung des Betroffenen eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausgemacht hätte. Neuere, dem Gerichtshof damals noch nicht vorliegende Erkenntnisse seit dem Jahre 2014 zur Situation in Ungarn, wie der Bericht des Menschenrechtskommissars vom 16.12.2014, der seinerseits auf einer Reihe aktueller Erkenntnismittel und auch eigener Anschauung beruhte, sowie die grundlegende Einschätzung von UNHCR vom 07.01.2015 (UNHCR I) gebieten jedoch auch in Ansehung gewisser Verbesserungen gleichwohl auch für das Jahr 2014 und bis heute eine abweichende Einschätzung. Hinzu kommt, dass selbst der Oberste Gerichtshof Ungarns (Kuriá) in seinem Bericht (Report on the Court’s Refugee Law-related Jurisprudence vom 20.10.2014; zitiert nach UNHCR I, S. 13 f.) die gravierenden Mängel der ungarischen Rechtsprechungspraxis bestätigt und praktische Hinweise zu deren unverzüglichen und notwendigen Behebung gegeben hatte (vgl. zu alledem auch Lehnert, NVwZ 2016, 896, 899). Eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 05.07.2016 (Nr. 9912/15) belegt aber eindrucksvoll, dass sich an der Inhaftierungspraxis auch im Jahre 2014 nichts Grundlegendes geändert hatte. Der der Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt entspricht geradezu exemplarisch den Fakten, wie sie der Senat aus den verwerteten Erkenntnismitteln entnommen hat.

Besonders besorgt war der Menschenrechtskommissar über die unverändert festzustellende Willkür bei der Anordnung von Haft, namentlich vermisste er jede Individualisierung der Anordnung und deren Verhältnismäßigkeit, was die Dauer betrifft. Verschärft wurde dieser Zustand dadurch, dass es - gewissermaßen als Korrektiv - keinerlei effektive richterliche Kontrolle gab, was auch vom Obersten Gerichtshof festgestellt und kritisiert worden war.

Die aktuell seit 01.08.2015 geltenden gesetzliche Bestimmungen über die Voraussetzungen für die Anordnung von "Asylhaft", die nach ungarischem Recht seit 2013 von der Abschiebungshaft "Immigration Detention" unterschieden wird (vgl. aida, "Country Report: Hungary" vom November 2015, S. 64 - im Folgenden aida II), stehen allerdings nunmehr im Wesentlichen formal in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU v. 26.06.2013, ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 96) in deren Art. 8 (vgl. auch aida II, S. 60). Als höchst problematisch wird hingegen unverändert auch heute noch die praktische Handhabung der Bestimmungen geschildert. Als Haftgründe werden am häufigsten "Fluchtgefahr" und "ungeklärte Identität" genannt (aida II, S. 60; amnesty international, Stranded Hope, Hungary’s sustained attack on the rights of refugees and migrants, 2016, S. 24 ff. im Folgenden ai, Stranded Hope). Mittlerweile kommt als weiterer oft herangezogener Grund die "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" hinzu (vgl. aida II, S. 61). Dem liegt zugrunde, dass Ungarn nunmehr alle Antragsteller, die nicht offiziell über eine Grenzstation einzureisen versuchen bzw. versucht haben, der illegalen Einreise beschuldigt und diese deshalb grundsätzlich auch strafrechtlich verfolgt werden können, was aber in dieser Pauschalität offensichtlich mit den Vorgaben in Art. 31 GFK unvereinbar ist, zumindest dann, wenn kein weiteres Begleitdelikt begangen wird, wie etwa die Beschädigung der Grenzanlagen (vgl. zu alledem UNHCR; Hungary as a country of asylum, vom Mai 2016, Rn. 59 - im Folgenden UNHCR II; Human Rights Watch “Hungary: Locked Up for Seeking Asylum“ vom 01.12.2015, S. 2 und 4 mit dem weiteren Hinweis, dass deshalb insbesondere abgelehnte Antragstellers häufig in "Immigration Detention", d.h. praktisch in Strafanstalten inhaftiert sind, - im Folgenden HRW; so auch aida II, S. 61 f. und 64). Ungeachtet dessen wird wiederum einhellig - auch für das Jahr 2015 - nach wie vor beanstandet, dass Haftgründe immer noch nicht individualisiert und einzelfallbezogen geprüft und beurteilt werden, wobei wiederum noch hinzu kommt, dass unverändert die Begründungen der Entscheidungen in höchstem Maße defizitär sind und für die Betroffenen nicht erkennen lassen, weshalb sie in Haft genommen werden (vgl. aida II, S. 61 und 68; Commissioner for Human Rights of the Council of Europe, vom 17.12.2015, Rn. 16 ff. und 22 - im Folgenden CHR II). Dass eine spezifische Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt wurde, lässt sich in der Regel den Entscheidungen immer noch nicht entnehmen (aida II, S. 68). Entgegen den Vorgaben des Unionsrechts wird bei gerichtlichen Haftanordnungen immer wieder nicht sorgfältig erwogen, ob es hierzu Alternativen gibt (aida II, S. 61; UNHCR I S. 22). Obwohl es, worauf bereits hingewiesen wurde, in der Vergangenheit eine ausdrückliche Beanstandung durch den Obersten Gerichtshof gegeben hatte, sind - mit einer gewissen Ausnahme beim Gericht in Debrecen - auch weiterhin kaum sichtbaren Änderungen eingetreten.

Die wesentlichen Verfahrensabläufe stellten sich und stellen sich nach wie vor wie folgt dar: Am Beginn der Haft steht eine maximal 72 Stunden geltende behördliche Haftanordnung, gegen die es mit Rücksicht auf völlig defizitäre Informationen, erhebliche sprachlich bedingte Kommunikationsprobleme und völlig unzureichenden Zugang zu fachkundiger Hilfestellung nur einen theoretischen, aber praktisch kaum wirksamen Rechtsschutz gibt (vgl. aida II, S. 69 und zum Ablauf des Verfahrens Rn. 67 f.) mit der Folge, dass die Betroffenen jeder denkbaren Willkür ausgeliefert sein können. Hieran schließt sich auf Antrag der Asylbehörde (OIN) eine förmliche gerichtliche Verlängerungsentscheidung an, die zunächst maximal 60 Tage gelten kann (bis insgesamt maximal 6 Monate). Die Verlängerungen erfolgen aus Gründen der "Verfahrensbequemlichkeit" in aller Regel (wenn auch nicht ausnahmslos) pauschal und ohne Bezug zum Einzelfall um die jeweils zulässige Höchstdauer, ohne dass es insoweit nach der Einschätzung der Stellungnahmen ein effektives Rechtsmittel oder eine effektive Abhilfemöglichkeit für die Betroffenen gibt (aida II, S. 67 ff. insbes. Rn. 69 f. und schon UNHCR I, S. 13 und 17); ob überhaupt ein Rechtsbehelf gegen die richterliche Haftanordnung eröffnet ist, ist nicht völlig klar (verneinend und im Einzelnen begründet aida II, S. 67 f. Rechtsschutz nur in Bezug auf die behördlich Anordnung bis zu 72 Stunden; bejahend AA v. 21.06.2016 an VG Potsdam). Die Gerichte stützen sich nach wie vor häufig allein auf die Angaben der Asylbehörde, ohne die Angaben der Betroffenen angemessen zu würdigen (aida II, S. 68; ecre/aida, "Crossing Boundaries" vom 01.10.2015, S. 27 f.). Bereits in der Vergangenheit konnte festgestellt werden, dass die Gerichte die vorgeschriebene Anhörung jedenfalls teilweise als "Massenanhörung" durchführten, so dass - wenn überhaupt - nur ein Minimum an Zeit für jeden Betroffenen blieb (vgl. aida II, S. 68). Zwar besteht an sich freier Zugang zu einer anwaltlichen Vertretung, die Beiordnung von Anwälten erwies sich aber als weitgehend unzureichend, da diese völlig passiv blieben und die Interessen ihrer Mandanten nicht ernsthaft vertraten (aida II, S. 70). Die vom Auswärtigen Amt (Auskunft vom 27.01.2016) behauptete genaue Einzelfallprüfung konnte schwerlich stattgefunden haben, wenn regelmäßig in der Haft unbegleitete Minderjährige angetroffen bzw. festgestellt worden waren. Es wird nämlich übereinstimmend berichtet, dass keine umfassende und vor allem einigermaßen zuverlässige Alterskontrolle und -feststellung stattfand bzw. gewährleistet war mit der Folge, dass immer wieder unbegleitete minderjährige Antragsteller in Haft kamen und später durch Mitarbeiter humanitärer Organisationen dort angetroffenen wurden (aida II, S. 62; UNHCR I, S. 18; CHR II, Rn. 27). Nichts anderes galt für sog. vulnerable Personen (vgl. auch HRW, S. 6 ff.), was insoweit folgenschwerer ist, weil keinerlei psychosoziale Betreuung in den Haftanstalten stattfindet (aida II, S. 65; HRW, S. 8). Eine psychologische Behandlung kommt allenfalls in einer Klinik in Betracht (vgl. AA v. 27.01.2016, S. 7). Grundsätzlich können nunmehr - wohl anders als noch im Jahre 2014 - auch Familien mit minderjährigen Kindern bis zu 60 Tagen wieder inhaftiert werden, was auch tatsächlich und nicht nur in Ausnahmefällen geschieht (vgl. aida II, S. 62; UNHCR I, S. 21 f.), aber schwerlich mit Art. 37 Kinderkonvention und Art. 11 Abs. 2 Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU v. 26.06.2013) vereinbar sein wird.

Die Haftanstalten waren und sind entgegen früherer Befürchtungen (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building als Legal Fence, vom 07.08.2015, S. 5) nicht überfüllt, allerdings jedenfalls teilweise nach wie vor in einem sehr schlechten Zustand, so v.a. die Haftanstalt in Nyirbátor (vgl. aida II, S. 65; HRW, S. 2 f. und 9), in der im Winter 2014/15 die Häftlinge bei Temperaturen von 5°C in der Haftanstalt ohne ausreichende Kleidung längere Zeit leben mussten, sie ist außerdem trotz mehrfacher Abhilfeversuche nach wie vor völlig verwanzt. Andere bauliche Mängel waren vorhanden, waren aber wohl nicht so gravierend. Schwangere, begleitete und unbegleitete Kinder und Menschen mit Behinderungen werden immer wieder auch für lange Zeit mit alleinstehenden Männern zusammen untergebracht (HRW, S. 2). Typisch ist weiterhin ein hohes Maß an alltäglicher Brutalität, die von dem Personal in den Haftanstalten ausgeht (vgl. ecre/aida, a.a.O.,S. 27; vgl. auch ausführlich ai, Stranded Hope, S. 25 ff., insbesondere auch zu Selbstmordversuchen und Selbstverletzungen). Die Betroffenen werden wie Kriminelle behandelt und nur mit Handschellen und untereinander angeleint ausgeführt (aida II, S. 65; CHR II, Rn. 21, dessen Ausführungen darauf schließen lassen, dass es sich nicht um einen Ausreißer gehandelt haben kann; vgl. auch AA vom 21.06.2016). Die ärztliche Basisversorgung für nicht vorbelastete Insassen ist theoretisch wohl gewährleistet (aida II, S. 65; AA v. 27.01.2016). Deren Effektivität leidet aber mit Rücksicht auf fehlende Dolmetscher erheblich unter den Kommunikationsschwierigkeiten, die oftmals eine sachgerechte Behandlung unmöglich machen (vgl. CHR II, Rn. 20).

Jedenfalls waren im Frühjahr 2014 noch etwa 25 v.H. aller Antragsteller und 42 v.H. aller männlichen ledigen Antragsteller in Haft (vgl. CHR I, Rn. 155 f.; aida, "Country Report: Hungary" vom April 2014, S. 48 - im Folgenden aida I). Für das gesamte Jahr 2013 wird - nicht aufgeschlüsselt nach der Gesamtzahl einerseits und der Zahl alleinstehender Männer andererseits - die Quote mit knapp 25 v.H. angegeben (vgl. UN General Assembly - Human Rights Council - Report oft the Working Group on Arbitrary Detention Mission to Hungary v. 03.07.2014).

Allerdings legten neuere Erkenntnismittel zunächst die Schlussfolgerung nahe, dass die Inhaftierungsquote möglicherweise in der Folge nicht mehr das gleiche hohe Ausmaß hatte wie dieses noch in den Jahren 2013 und 2014 der Fall war. Zwar nennt aida (II, S. 60) eine Zahl von 52 v.H. Inhaftierten bezogen auf den 02.11.2015, ohne dieses genauer zu erläutern; in diesem Zusammenhang wird aber sodann noch die Gesamtzahl der zwischen 01.01. bis 30.09.2015 inhaftierten Antragsteller mit 1.860 angegeben, was aber in Anbetracht der vom Auswärtigen Amt dem Senat auf die Anfrage des Senats am 27.06.2016 mitgeteilten Zahl von rund 179.000 Antragstellern im Jahre 2015 eine Quote von 52 v.H. nicht ohne weiteres plausibel erscheinen lässt (vgl. aber auch völlig widersprüchlich AA v. 03.07.2015: 01.01.2015 bis 31.05.2015 1.078 inhaftierte Personen einerseits, AA vom 28.09.2015: 01.01.2015 bis 30.06.2015 492 Personen andererseits). Gegenüber dem Senat hat das Auswärtige Amt am 27.06.2016 die Gesamtzahl der Inhaftierungen im 1. Halbjahr 2015 mit 1.258, im 2. Halbjahr mit 1.145 und in der Zeit zwischen dem 01.01.2016 bis 22.06.2016 mit 1.648 Personen angegeben, was in Einklang mit der von aida genannten Gesamtzahl von 1.860 Personen stehen könnte. Geht man von der hohen Zahl der Antragstellungen im Jahre 2015 aus, so könnte hieraus auf eine deutlich geringere Inhaftierungsquote als im Jahre 2014 zu schließen sein, auch wenn dem Senat nicht bekannt ist, wie viele Antragsteller tatsächlich überhaupt noch im Land geblieben waren. Sollte, wie zu vermuten ist, der ganz überwiegende Teil der Antragsteller das Land im Jahre 2015 aber bereits wieder verlassen haben, so würde dieses unmittelbar die Inhaftierungsquote nicht unerheblich erhöhen. Dafür, dass die meisten Antragsteller wieder das Land verlassen hatten, sprach der Umstand, dass regelmäßig der Anteil der sog. Einstellungsentscheidungen der ungarischen Asylbehörde signifikant hoch war (vgl. Eurostat, "Asylum and first time asylum applicants, Last update 06.07.2016" für Ungarn 177.135 Antragsteller im Jahre 2015 einerseits; "Asylum applications withdrawn, Last update 08.07.2016" für Ungarn im Jahre 2015 103.015 Einstellungsentscheidungen andererseits; vgl. auch "Final decisions on applications Last update 22.06.2016" für Ungarn im Jahre 2015 nur 480 endgültige Sachentscheidungen).

Auch zum heutigen Zeitpunkt ist nach wie vor von einer hohen Inhaftierungsquote auszugehen. Amnesty international teilt unter Berufung auf das Hungary Helsinki Committee mit, dass zum 01.08.2016 noch etwa 1200 registrierte Flüchtlinge in Ungarn geblieben seien, von denen etwa 700 inhaftiert gewesen seien (ai, Stranded Hope, S. 24 ff.).

Diese Quoten begründeten nach Überzeugung des Senats in Anbetracht der erheblichen und einschneidenden Folgen einer Inhaftierung für die Betroffenen die erforderliche beachtliche Wahrscheinlichkeit im Sinne eines "real risk". Ausgehend von diesen Zahlen muss der Kläger dann, wenn er nach Ungarn zurückkehren würde, um dort ein (weiteres) Verfahren auf Gewährung internationalen Schutzes durchzuführen, als alleinstehender Mann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen in Haft zu kommen. Das nach den verwerteten Erkenntnismitteln hoch defizitäre Haftanordnungs- bzw. Haftprüfungsverfahren, das die Betroffenen einer willkürlichen Behandlung aussetzt, und in dem sie in der Regel nicht einmal im Ansatz in ihrer Subjektqualität wahrgenommen werden, verstößt nicht nur gegen die menschenrechtlichen Garantien der Art. 5 und Art. 13 EMRK (vgl. zu dem Aspekt der mangelnden Eröffnung der maßgeblichen Gründe einer Inhaftierung und einer hieraus folgenden Verletzung von Art. 3 EMRK EGMR, Urteil vom 01.09.2015 - Nr. 16483/12, Khlaifia u.a./Italien -, juris; vom. 05.07.2016 - Nr. 9912/15), sondern auch - jedenfalls in Zusammenschau mit den konkreten Haftbedingungen bei desolater Unterbringungssituation und den Handlungsweisen des Personals mit systematischer Schlechtbehandlung - gegen Art. 3 EMRK und damit gegen Art. 4 GRCh. Es ist nach alledem davon auszugehen, dass angesichts der schweren Mängel des Haftanordnungsverfahrens der Kläger keine effektive und faire Chance haben wird, seine Belange in das Verfahren einzubringen und damit gehört zu werden, weshalb es dem Kläger nicht zugemutet werden konnte, in Ungarn ein (weiteres) Verfahren auf internationalen Schutz durchzuführen, mit der Folge, dass mit der Asylantragstellung im Bundesgebiet die Zuständigkeit der Bundesrepublik begründet wurde.

Das ungarische Asylsystem weist ungeachtet dessen auch in anderer Hinsicht weitere schwere systemische Mängel auf, worauf es aber nicht mehr entscheidend ankommt. So behandelt Ungarn u.a. Serbien als sicheren Drittstaat (vgl. aida II, S. 43 f.; vgl. auch eccre/aida, Crossing Boundaries, October 2015, 34 ff. auch zur rückwirkenden Anwendung der Drittstaatenregelung), womit die massenhaften Einreiseverweigerungen und Zurückschiebungen an der serbisch-ungarischen Grenze zu erklären sind (vgl. u.a. aida II, S. 30 ff.; Hungarian Helsinki Committee, No Country for Refugees, 28.09.2015; ai, Stranded Hope, S. 14 f.). Serbien seinerseits sieht u.a. Griechenland, Mazedonien und die Türkei als sichere Drittstaaten an (aida, Country Report: Serbia März 2016, 23 f.). Dass Griechenland kein sicherer Drittstaat sein kann, wurde bereits erwähnt. Für die Türkei gilt nichts anderes. Denn zum einen wendet die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf europäische Flüchtlinge an. Rein faktisch beachtet sie aber insbesondere auch gegenüber syrischen Flüchtlingen das Refoulement-Verbot nicht. Es gibt zahlreiche glaubhafte Berichte, dass es immer wieder zu Push-Backs in größerem Umfang an der syrisch-türkischen Grenze kommt (vgl. zu alledem ai, Turkey - Illegal Mass Returns of Syrian Refugees, 01.04.2016; pro asyl, Turkey: Syrians Pushed Back at the Border, 23.11.2015), was schon in Anbetracht der fehlenden völkervertraglichen Bindungen der Türkei dazu führen muss, dass die Türkei nicht als sicherer Drittstaat angesehen werden kann. Hinzu kommt, dass das serbische Asylverfahren massiver Kritik ausgesetzt und jedenfalls faktisch nicht geeignet ist, effektiven Flüchtlingsschutz zu gewährleisten; aida spricht davon, dass die gravierenden Mängel v.a. in der mangelnden Implementierung des Flüchtlingswesens in die Gesetzgebung und in der weitgehenden Unkenntnis flüchtlingsrechtlicher Fragestellungen bei den Akteuren im System bestehen (vgl. aida, Country Report: Serbia, S. 12; vgl. auch UNHCR, Serbia as a country of asylum, August 2012). Aus alledem folgt, dass Ungarn ein System der flüchtlingsrechtlichen Verantwortungslosigkeit betreibt und sehenden Auges Kettenabschiebungen ermöglicht. In diesem Sinn hat auch am 20.04.2016 das Oberste Verwaltungsgericht Finnlands entschieden (vgl. KHO: 2016: 53), dass Ungarn zu Unrecht Serbien als einen sicheren Drittstaat behandelt und deshalb sein Asylsystem systemische Schwachstellen aufweist. Schließlich weist der Senat darauf hin, dass es nachvollziehbare und glaubhafte aktuelle Schilderungen über die Behandlung von gestrandeten Flüchtlingen an der ungarischen Grenze gibt, die deutlich machen, dass Ungarn nicht nur ständig das Refoulement-Verbot verletzt, sondern dabei auch exzessive Gewalt anwendet. Minimale menschenrechtliche Standards werden auch dadurch verletzt, dass im Rahmen des Grenzregimes wiederholte erfolgreiche Versuche gegeben hat, ungarische NGOs daran zu hindern, durch eigene Hilfsmaßnahmen und Hilfsprojekte die äußerst schlechten Lebensbedingungen der an der Grenze ausharrenden Menschen zu lindern (amnesty international, So schlecht wie möglich, August 2016). Diese bei den handelnden staatlichen Organen offensichtlich vorherrschende ablehnende bis gar feindliche Grundeinstellung gegenüber Flüchtlingen, die in vielfach geschilderten Gewaltexzessen und in der inhumanen Verhinderung von Hilfseinsetzen von ungarischen NGOs exemplarisch zum Ausdruck kommt, lässt nach Überzeugung des Senats auch Rückschlüsse auf die oben geschilderte Schlechtbehandlung in der Asylhaft zu. Die Plausibilität und Glaubhaftigkeit der diesbezüglichen Berichte wird dadurch untermauert. Diese Feststellungen haben daher indirekt auch Relevanz für die Einschätzung der (künftigen) Situation des Klägers.

Abschließend weist der Senat noch darauf hin, dass am 10.12.2015 die Europäische Kommission gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat (vgl. Presserklärung der Europäischen Kommission vom 10.12.2015). Dieses hat im Wesentlichen die Effektivität des Rechtsschutzes zum Gegenstand. Erstens befürchtet die Kommission im Hinblick auf die Asylverfahren, dass es im Rahmen von Rechtsbehelfen nicht möglich sei, auf neue Fakten und Umstände zu verweisen, und dass Ungarn Entscheidungen im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen nicht automatisch aussetze, sondern dass Antragsteller bereits vor Verstreichen der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs oder vor der Prüfung des Rechtsbehelfs effektiv gezwungen würden, ungarisches Hoheitsgebiet zu verlassen. In der Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie seien gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und klare Vorschriften für die Beantragung von Asyl festgelegt. Sie gelte für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet - auch an den Grenzen, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen - der Mitgliedstaaten gestellt werden. Sodann befürchtet die Kommission im Hinblick auf das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen, dass das ungarische Gesetz über beschleunigte Strafverfahren wegen irregulären Grenzübertritts gegen die Vorschriften der Richtlinie über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren verstoße, die sicherstelle, dass jede verdächtige oder angeklagte Person, die die Verfahrenssprache nicht verstehe, eine schriftliche Übersetzung aller wichtigen Dokumente, auch eines etwaigen Urteils, erhalte. Schließlich bestünden im Hinblick auf das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht nach Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bedenken hinsichtlich der Tatsache, dass gemäß den neuen ungarischen Vorschriften zur gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen über die Ablehnung eines Asylantrags eine persönliche Anhörung der Antragsteller fakultativ sei. Zudem könne der Umstand, dass gerichtliche Entscheidungen von Gerichtssekretären auf vorgerichtlicher Ebene getroffen werden, einen Verstoß gegen die Asylverfahrensrichtlinie und Artikel 47 der Grundrechtecharta begründen. Gerade der erste Punkt wird aus der Sicht des Senats eindringlich durch verschiedene Erkenntnismittel, die ihm vorliegen, untermauert (vgl. etwa amnesty international, Trampling on the rights of refugees and asylumseekers, May 2016; UNHCR II, Rdn. 38 ff.; amnesty international, So schlecht wie möglich, August 2016).

II.

Die angegriffenen Verfügungen waren nach dem maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Senats (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) auch aus einem weiteren Grund aufzuheben.

1. Die in Ziffer 2 verfügte Abschiebungsanordnung setzt nach § 34a Abs. 1 AsylG voraus, dass die Abschiebung in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgen kann und dies auch alsbald der Fall sein wird. Bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass dieses nicht der Fall sein könnte, ist die Beklagte ggf. darlegungspflichtig, dass diese Voraussetzungen gleichwohl (noch) vorliegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.04.2016 - 1 C 24.15 -, juris). Zum einen ergab sich schon aus dem von der Beklagten selbst dem Senat bereits im Verfahren A 11 S 976/16 vorgelegten Quartalsbericht IV 2015 zum Mitgliedstaat Ungarn vom 27.01.2016, dass im gesamten Jahr 2015 von 33.220 Zustimmungsfällen tatsächlich nur 1.402 nach Ungarn überstellt worden waren, was einer Quote von 4,2 v.H. entsprach; im 4. Quartal war die Quote sogar auf 3,3 v.H. gesunken. Die mittlerweile vorliegende Dublin-Statistik für das 1. Halbjahr und das von der Beklagten im vorliegenden Verfahren vorgelegte statistische Material zeichnen ein vergleichbares Bild; die Überstellungsquote betrug im gesamten 1. Halbjahr 2016 lediglich 7,14 v.H. (vgl. BAMF: Dublin-Statistik 1. Jahreshälfte 2016), was unübersehbar zu einem enormen Rückstau von Überstellungen geführt haben muss. Erst um die Jahresmitte 2016 hat sich die Quote deutlich verbessert, was ersichtlich auf die gesunkene Zahl von Zustimmungen Ungarns zurückzuführen ist. Die Zahlen der erfolgten Überstellungen liegen aber immer noch deutlich unter der Zahl der Zustimmungen. An der sehr niedrigen Überstellungsquote und dem infolge dessen entstandenen extremen Rückstau hat sich somit nichts Grundlegendes geändert, er wächst sogar weiter ständig an. Allerdings finden durchaus regelmäßig Überstellungen statt, obwohl offizielle ungarische Verlautbarungen etwas anderes nahe legen. Soweit die Beklagte darauf abhebt, dass bei der Beurteilung und der Bewertung der Überstellungsquote berücksichtigt werden müssen, dass "viele" Abschiebungen aus mancherlei Gründen nicht durchgeführt werden könnten, etwa weil sich die Betroffenen verweigern oder entziehen würden, so ist dieses zweifellos richtig. In der mündlichen Verhandlung wurde dieser Aspekt, insbesondere die naheliegende Frage, was unter "viele" zu verstehen ist erörtert, von der Beklagten aber nicht beantwortet oder erläutert, da sie ohne vorherige Mitteilung der Verhandlung fern geblieben ist. Auch hatte die Beklagte auf die Anfrage des Senats, kein bestimmtes Handlungsmuster darlegen können, nach dem die Überstellungen durchgeführt und v.a. der Rückstau abgearbeitet werden soll, wobei hier nochmals darauf hinzuweisen ist, dass dieser gegenwärtig noch weiter zunimmt. Allein deshalb ist Ziffer 2 der angegriffenen Verfügung aufzuheben. Der Senat sieht sich in seiner Einschätzung, dass der erhebliche Rückstau nicht in absehbarer Zeit abgebaut werden kann und wird, darin bestätigt, dass das für die Aufenthaltsbeendigung in ganz Baden-Württemberg zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe auf die Anfrage des Senats am 12.10.2016 mitgeteilt hat, dass im gesamten Jahre 2016 bislang 12 Überstellungen nach Ungarn durchgeführt worden sind. Bereits aufgrund dessen ist die Abschiebungsanordnung aufzuheben.

2. Die dargestellte Problematik hat jedoch auch weitergehende Folgen und berührt - ungeachtet der Ausführungen unter I - die Rechtmäßigkeit der Ziffer 1, in der der Asylantrag als unzulässig abgelehnt worden war.

Steht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats hinreichend sicher fest, dass innerhalb der nächsten sechs Monate eine Überstellung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sein wird oder durchgeführt werden kann, so gebietet der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke (vgl. z.B. EuGH, Urteil vom 14.11.2013 - C-4/11 -, NVwZ 2014, 129, Rn. 33 ff.), dass bereits jetzt von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang auszugehen ist (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO). Bei diesen Überlegungen muss - ausgehend von der Annahme, dass die Ziffer 1 sonst an keinen Rechtsfehlen leidet und der Senat als maßgeblichen Zeitpunkt den der mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen hat (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) - die Prognose zum Ausgangspunkt nehmen, dass die Überstellungsfrist aktuell zu laufen beginnt, weil der Kläger sein Begehren nicht weiter verfolgen wird. Andernfalls wäre zu Lasten der Betroffenen und unter Vernachlässigung des Beschleunigungsgedankens ein zuverlässiger Ausgangs- und Fixpunkt der Prognose nicht festzulegen mit der Folge, dass die hier bestehende Überstellungsproblematik nicht in einer den berechtigten Interessen der Betroffenen gemäßen Art und Weise sachgerecht bewältigt werden könnte. Bei einer anderen Sichtweise könnte eine Prognoseentscheidung erst dann getroffen werden, wenn die Entscheidung des Senats zu einem jetzt noch ungewissen Zeitpunkt rechtskräftig geworden ist und damit die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. auch Art. 29 Abs. 1 UA 1) in Lauf gesetzt wurde. Der Senat würde dann auch - gesetzeswidrig - einen anderen (späteren) und gerade nicht den den Vorgaben des § 77 Abs. 1 AsylG entsprechenden Zeitpunkt seiner Entscheidung zugrunde legen. Weshalb in diesem Zusammenhang (wohl vor dem Hintergrund des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO) generell von einem Prognosehorizont von 18 Monaten auszugehen sein sollte, wie die Beklagte im Verfahren A 11 S 976/16 vorgetragen hat, erschließt sich dem Senat nicht. Denn weder bestehen Anhaltspunkte dafür, dass alle zu Überstellenden flüchtig sind oder sein werden, noch dass solches beim Kläger der Fall sein wird.

Angesichts des oben dargestellten enormen und weiter wachsenden Rückstaus von Überstellungen (allein aus dem Jahr 2015 und der 1. Jahreshälfte 2016) und bei einer nur verschwindend geringen Überstellungsquote ist - auch angesichts der aktuellen offiziellen Äußerungen der ungarischen Regierung vom 26.05.2016, möge diese auch in erster Linie innenpolitisch motiviert sein - für den Senat nicht ersichtlich und von der Beklagten auch nicht plausibel dargelegt, dass in absehbarer Zeit überhaupt noch Überstellungen in nennenswertem Umfang, die in einem angemessenen Verhältnis zur Gesamtzahl der zu überstellenden Personen stehen, durchgeführt werden können. Bei dieser Sachlage ist die Beklagte zur Vermeidung weiterer unzumutbarer dem Beschleunigungsprinzip und der Effektivität des Europäischen Asylsystems zuwider laufender Verzögerungen, verpflichtet, ohne Ermessensspielraum sofort von dem Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, ohne den sich abzeichnenden Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abwarten zu dürfen.

Nach alledem wird die Beklagte im weiteren Verfahren zu entscheiden haben, ob der am 03.06.2014 gestellte Antrag ein Erstantrag oder Zweitantrag ist. Denn der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass er seines Wissens nach keinen Asylantrag gestellt hat, jedenfalls aber, sollte er bei seiner Festnahme und dem anschließenden Verhör durch die ungarischen Behörden unbewusst einen Asylantrag gestellt haben, keinen Ablehnungsbescheid erhalten und noch weniger eine Klage angestrengt zu haben. [...]