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VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Beschluss vom 09.06.2016 - 6 L 205/16 - asyl.net: M24299
https://www.asyl.net/rsdb/M24299
Leitsatz:

[Absehen vom Visumserfordernis bei Unzumutbarkeit]:

1. Das nach § 5 Abs 2 Satz 2 Alt 2 AufenthG bei tatbestandlicher Unzumutbarkeit eröffnete Ermessen ist im Regelfall dahingehend reduziert, dass auf das Visumerfordernis (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG) zu verzichten ist.

2. Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie ist es grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen.

3. Auch eine nur vorübergehende Trennung kann bei einem ausländischen Ehegatten einer deutschen Staatsangehörigen gegebenenfalls unzumutbar sein, wenn die Forderung nach Nachholung des Visumverfahrens sich im Einzelfall - etwa wegen der Hilfebedürftigkeit des Ehegatten oder der trotz Mitwirkung des Ausländers zu erwartenden verfahrensbedingt überlangen Trennungsdauer - als unverhältnismäßig darstellt.

4. Die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Spracherfordernis beim Ehegattennachzug zugrunde gelegte Zeitspanne von einem Jahr kann - jedenfalls bei einem Ehepaar ohne kleine Kinder - einen Anhaltspunkt auch für Unzumutbarkeitserwägungen im Rahmen geforderter Nachholung von Visa geben.

5. Zu einem Einzelfall, in dem trotz (umfangreich dokumentierter) Mitwirkung des Ausländers völlig offen erscheint, wann dieser im Falle seiner Rückkehr (hier: nach Jordanien) mit einem Termin für einen Antrag auf Erteilung eines nationalen Visums rechnen könnte.

6. Von maßgeblicher Bedeutung für die Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens ist beim Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen mit Blick auf Art. 6 GG die hierfür zu erwartende erforderliche Dauer der zu erwartenden Trennung der Ehegatten.

7. Zur Frage der erforderlichen einfachen deutschen Sprachkenntnisse.

8. Zur Folgenabwägung bei der Nachholung des Visumverfahrens durch einen ausländischen Ehegatten einer deutschen Staatsangehörigen bei offenen einfachen deutschen Sprachkenntnissen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, Familiennachzug, Visumsverfahren, psychische Erkrankung, Ehegattennachzug, Schutz von Ehe und Familie, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null,
Normen: GG Art. 6, AufenthG § 5 Abs 2 Satz 2 AufenthG,
Auszüge:

[...]

Zunächst steht der Erteilung einer ehebedingten Aufenthaltserlaubnis an den Antragsteller hier voraussichtlich ausnahmsweise nicht entgegen, dass er ohne das für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erforderliche Visum eingereist ist. Denn gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG kann von den Voraussetzungen des Satzes 1 der Vorschrift und damit auch von der Visumpflicht nach Satz 1 Nr. 1 der Norm abgesehen werden, wenn es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren durchzuführen. Dafür spricht hier inzwischen Vieles mit der Folge, dass das dem Antragsgegner eröffnete Ermessen insoweit auf Null reduziert sein dürfte; vor dem Hintergrund des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wird nämlich kaum zu begründen sein, dass dem Betroffenen etwas, das ihm explizit unzumutbar ist, noch abverlangt werden kann (vgl. Beschluss der Kammer vom 22.04.2015 – 6 L 277/15 -; vgl. auch Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 5 Rz. 139 f., m.w.N.). [...]

Ernstlich in Betracht kommt vorliegend jedoch die Alternative 2 der Ausnahmeregelung des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, da es dem Antragsteller auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls und vor dem Hintergrund der von ihm bereits an den Tag gelegten intensiven und nachhaltigen Bemühungen und der dabei aufgetretenen faktisch nahezu unüberwindlich erscheinenden Schwierigkeiten nicht (mehr) zumutbar sein dürfte, das Visumverfahren nachzuholen. Mithin steht es gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG im pflichtgemäßen Ermessen des Antragsgegners, ob er auf der Nachholung des Visumverfahrens besteht oder von dem Vorliegen dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG absieht. Dieses Ermessen hat der Antragsgegner indes bei summarischer Prüfung und unter Würdigung der individuellen Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nicht ordnungsgemäß ausgeübt, weil nach derzeitiger Erkenntnislage Überwiegendes dafür, dass die Verweisung des Antragstellers auf die Nachholung des Visumverfahrens im Hinblick auf die sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen unzumutbar erscheint. Denn die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet den Antragsgegner als Ausländerbehörde, bei seiner Entscheidung die familiären Bindungen des den weiteren Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -, juris, sowie vom 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 -, NVwZ 2009, 387; ferner OVG des Saarlandes, Beschluss vom 20.05.2016 - 2 B 46/16 -, m.w.N.).

Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie ist es zwar grundsätzlich vereinbar, den Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Die mit der Durchführung des Visumverfahrens üblicherweise verbundenen zeitlichen Verzögerungen sind ebenso wie eine damit einhergehende vorübergehende Trennung von hier lebenden Angehörigen von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Allerdings kann auch eine nur vorübergehende Trennung gegebenenfalls unzumutbar sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 01.12.2008 - 2 BvR 1830/08 -, a.a.O., und vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05 -, InfAuslR 2006, 925; ferner Bayerischer VGH, Beschluss vom 19.12.2013 - 10 C 11.1314 -, juris).

Das ist nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes bei einem ausländischen Ehegatten einer deutschen Staatsangehörigen etwa dann der Fall, wenn die Forderung nach Nachholung des Visumverfahrens sich "im Einzelfall – etwa wegen der Hilfebedürftigkeit des Ehegatten oder der trotz Mitwirkung des Ausländers zu erwartenden verfahrensbedingt überlangen Trennungsdauer – als unverhältnismäßig darstellt." (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 26.04.2016 - 2 B 57/16 -; vgl. auch Beschluss der Kammer vom 02.06.2016 - 6 L 204/16).

Dabei geht das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes in Orientierung an der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Spracherfordernis beim Ehegattennachzug davon aus, dass die dort zugrunde gelegte Zeitspanne von einem Jahr "- jedenfalls bei einem Ehepaar ohne kleine Kinder – einen Anhaltspunkt auch für Unzumutbarkeitserwägungen im Rahmen geforderter Nachholung von Visa geben" kann (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 03.06.2015 - 2 B 60/15 -; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 04.09.2012 -10 C 12/12 -, BVerwGE 144, 141).

So liegt es hier: Wegen der im vorliegenden Einzelfall trotz (umfangreich dokumentierter) Mitwirkung des Ausländers zu erwartenden verfahrensbedingt überlangen Trennungsdauer stellt sich die Forderung nach Nachholung des Visumverfahrens hier voraussichtlich als unverhältnismäßig dar. Denn fallbezogen steht nicht etwa eine bloß vorübergehende, zeitlich überschaubare Ausreise des Antragstellers in Rede. Vielmehr erscheint völlig offen, wann der Antragsteller im Falle seiner Rückkehr nach Jordanien mit einem Termin für einen Antrag auf Erteilung eines nationalen Visums rechnen könnte. Nach Aktenlage stellt sich in Anbetracht der konkreten Umstände an der Deutschen Botschaft in Jordanien eine Wartezeit nicht nur von etlichen Monaten, sondern auch von deutlich mehr als einem Jahr und möglicherweise auch noch länger als keineswegs ausgeschlossen dar. Zwar hat der Antragsteller erklärt, dass er grundsätzlich bereit sei, freiwillig auszureisen, wenn ihm eine Vorabzustimmung erteilt wird; auch hat der Antragsgegner sich bereit erklärt, eine Vorabzustimmung zu erteilen, sofern der Antragsteller freiwillig ausreise. Eine derartige, nach Lage der Dinge sachgerecht erscheinende Lösung scheitert jedoch offenkundig an der Überlastungssituation der Visastelle der Deutschen Botschaft Amman: [...]

Angesichts des danach nicht abzusehenden Zeitraums für die Durchführung des Visumverfahrens würde die Nachholung eines solchen durch den Antragsteller von Jordanien aus diesem das Führen seiner ehelichen Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau voraussichtlich in unzumutbarer Weise erschweren. Auch unter Berücksichtigung vom Ausland aus möglicher Kommunikationskontakte ist mit Blick auf die völlig unabsehbare und auch vom Antragsgegner nicht konkretisierbare Dauer der Trennungszeit zu besorgen, dass die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Ehe in erheblichem Maße beeinträchtigt würde. Eine Trennung des Antragstellers von seiner deutschen Ehefrau auf nicht zuverlässig absehbare Zeit ist daher bei summarischer Prüfung nicht nur für diesen nicht hinnehmbar, sondern erscheint auch mit Blick auf seine Ehefrau als unvertretbar. Denn "von maßgeblicher Bedeutung für die Zumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens ist beim Ehegattennachzug zu deutschen Staatsangehörigen mit Blick auf Art. 6 GG die hierfür zu erwartende erforderliche Dauer der zu erwartenden Trennung der Ehegatten." (so bereits das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes in dem im vorangegangenen Eilrechtsschutzverfahren ergangenen Beschluss vom 03.06.2015 - 2 B 60/15).

Nach derzeitiger Erkenntnislage spricht mithin Vieles dafür, dass die Verweisung des Antragstellers auf die Nachholung des Visumverfahrens im Hinblick auf die sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen unzumutbar erscheint, so dass gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG die Verletzung der Visumpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hier einem Anspruch auf Erteilung einer ehebedingten Aufenthaltserlaubnis voraussichtlich nicht entgegensteht. [...]