VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26.09.2016 - 11 S 1413/16 - asyl.net: M24293
https://www.asyl.net/rsdb/M24293
Leitsatz:

1. Die §§ 54, 55 AufenthG sind auch auf Sachverhalte anzuwenden, bei denen ein unionsrechtlicher Ausweisungsmaßstab nach § 53 Abs. 3 AufenthG gilt (Fortführung von VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.03.2016 - 11 S 1389/15 -, juris [asyl.net: M23754] Rn. 29).

2. Leiter eines verbotenen Vereins im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ist auch eine Person, die Kraft ihrer in dem Verein anerkannten Autorität eine führende Rolle innehat.

3. Der spezielle Gefahrenmaßstab des § 54 Nr. 5 AufenthG a.F. ist nicht auf die Gefahrenprognose bei Vorliegen anderer Ausweisungsinteressen übertragbar. Nichts anderes gilt für den für die Nachfolgervorschrift des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geltenden Maßstab (vgl. VGH Bad-.Württ., Urteil vom 02.03.2016 - 11 S 1389/15 -, juris [asyl.net: M23754]). Jenseits dieser Vorschriften ist die Gefahr in jedem Einzelfall aus dem - dem jeweiligen Ausweisungsinteresse zugrunde liegenden - Verhalten des Ausländers konkret abzuleiten (Fortführung von VGH Bad-.Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, juris [asyl.net: M23751] Rn. 121, m.w.N.).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Ausweisungsinteresse, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Gefahrenmaßstab, Gefahrenprognose, verbotener Verein, Red Legion, Rocker
Normen: AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 53 Abs. 3
Auszüge:

[...]

3.) Im Einzelnen: Die Ausweisungsverfügung - ursprünglich nach § 54 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG a. F. - ist nunmehr auf § 53 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 54 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in der seit 1. Januar 2016 geltenden Fassung (Art. 9 des Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BGBl. I, S. 1386 1399>) zu stützen.

a) Die Rüge, es sei fehlerhaft § 54 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG als Ausgangspunkt der Prüfung herangezogen worden, obwohl diese Vorschrift wegen § 53 Abs. 3 AufenthG nicht anwendbar sei, greift nicht durch.

Soweit in der Literatur vertreten wird, §§ 54, 55 AufenthG seien auf Personen, die dem Anwendungsbereich des § 53 Abs. 3 AufenthG unterfallen, nicht anwendbar (so: Cziersky-Reis, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., 2016, § 53 AufenthG, Rn. 37), folgt der Senat dem nicht (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 02.03.2016 - 11 S 1389/15 -, juris Rn. 29). Das Unionsrecht gebietet die Einhaltung des einschlägigen unionsrechtlichen Ausweisungsmaßstabs, die im neuen Ausweisungsrecht über § 53 Abs. 3 AufenthG sichergestellt wird, es gibt dem nationalen Gesetzgeber aber darüber hinaus die Ausgestaltung der Ausweisungsregelungen nicht vor. Insbesondere untersagt es keine nationalrechtliche Konkretisierung der ausweisungsrechtlichen Schutzgüter, die § 54 AufenthG n. F. durch die Vertypung der Ausweisungsinteressen leistet, indem die in § 53 Abs. 1 AufenthG vorgegebenen Schutzgüter ausgeformt und damit zugleich in einer Weise begrenzt werden, die sowohl die Vorhersehbarkeit der Folgen der Regelungen als auch deren gleich- und verhältnismäßige Handhabung gewährleisten soll. Es ist kein Grund ersichtlich, der es gebieten würde, diese Konkretisierungen außer Acht zu lassen. Die zugleich mit § 54 AufenthG erfolgende Gewichtung der Ausweisungsinteressen führt zu keinem Rechtsnachteil für die Betroffenen, da es gleichwohl stets einer konkreten Einzelfallprüfung in Bezug auf sämtliche den Fall prägenden Umstände bedarf (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/16 -, juris; Bauer, a.a.O., Rn. 7). In Bezug auf § 55 AufenthG gilt nichts anderes. [...]

4.) Diese Gefahr genügt auch § 53 Abs. 3 AufenthG, der im Falle des Besitzes einer assoziationsrechtlichen Rechtsstellung eine Ausweisung nur zulässt, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats darstellt und die Maßnahme für die Wahrung dieses Interesses "unerlässlich" ist (EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08 <Ziebell/Örnek> -; BVerwG, Urteile vom 13.12.2012 - 1 C 20.11 -, InfAuslR 2013, 169 und vom 15.01.2013 - 1 C 10.12 -, InfAuslR 2013, 217; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 10.02.2012 - 11 S 1361/11 -, juris Rn. 64 ff.). In Anbetracht des differenzierten, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkten Grads der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, Urteile vom 15.01.2013 - 1 C 10.12 -, juris und vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - InfAuslR 2010, 3) liegt eine fortwirkenden hohe Gefährlichkeit des Antragstellers in Bezug auf hochrangige Rechtsgüter vor.

5.) Die Ausweisung verstößt auch nicht gegen die aus Art. 13 ARB 1/80 folgende Stand-Still-Klausel, da hier eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Rede steht, die auch schon nach dem 1965 geltenden Ausländergesetz ohne Weiteres einen Ausweisungsgrund darstellte. Die Leitung eines Vereins, der in Tötungsdelikten, gefährliche Körperverletzungen und schweren Landfriedensbruch verstrickt ist, stellt eine solche Gefahr dar. Unbeschadet dessen wäre eine unterstellte Gesetzesverschärfung auch aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt (vgl. auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.01.2016 - 11 S 889/15 -, DVBl 2016, 387 ff.).

6.) Davon ausgehend begegnet die Ausweisungsverfügung auch mit Blick auf die Feststellung und Bewertung seines Bleibeinteresses und der Abwägung der widerstreitenden Interessen keinen Bedenken, was mit der Beschwerde auch nicht geltend gemacht wird.