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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 14.09.2016 - A 11 S 1125/16 (= ASYLMAGAZIN 11/2016, S. 376 ff.) - asyl.net: M24292
https://www.asyl.net/rsdb/M24292
Leitsatz:

Die von der chinesischen Ein-Kind-Politik, die nunmehr von einer Zwei-Kind-Politik abgelöst wurde, nachteilig betroffenen Kinder (hier ein viertes Kind) stellen flüchtlingsrechtlich eine soziale Gruppe dar, auch wenn im Hinblick auf die Möglichkeit einer Zahlung von Bußgeldern im Einzelfall, die zu einer Aufnahme in das Haushaltsregister (Houkou oder Hukou) führen kann, nicht alle Mitglieder tatsächlich verfolgt werden.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: China, Kind, Kinder, soziale Gruppe, Bußgeld, Flüchtlingsanerkennung, Flüchtlingsschutz, Flüchtlingseigenschaft, Verfolgungsgrund, Ein-Kind-Politik, Zwei-Kind-Politik,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 4 Nr. 1
Auszüge:

[...]

In tatsächlicher Hinsicht geht der Senat zunächst von den zutreffenden und überzeugenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16.07.2015 (A 6 K 786/14) aus, die der Senat ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hatte. Das Verwaltungsgericht hat u.a. ausgeführt: [...]

Auch unter Berücksichtigung der aktuellen Auskunftslage zum mittlerweile erreichten Stand der chinesischen Ein-Kind-Politik und der seither ergangenen Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte zu deren fehlender asyl- und flüchtlingsrechtlicher Relevanz sieht das Gericht derzeit keinen Anlass, von diesen Entscheidungen abzurücken. Zwar wird allenthalben mittlerweile darüber berichtet, dass die offizielle chinesische Politik sich langsam anschickt, sich von der Ein-Kind-Politik zu verabschieden und auf Dauer eine Zwei-Kind-Politik anzustreben, die allen verheirateten Paaren ohne sonstige Voraussetzungen zwei Kinder erlaubt. Denn in den letzten Jahren hat sich immer deutlicher herausgestellt, dass die rigide Ein-Kind-Politik ein schwerer - auch in Zukunft nur schwer rückgängig zu machender - Fehler war. [...] Die Ein-Kind-Politik hat zudem nicht nur den negativen Effekt einer weit verbreiteten Tötung von weiblichen Föten nach sich gezogen (sogenannter "gendercide" = geschlechtsspezifischer Völkermord) und der dadurch bewirkte Männerüberschuss hat zum Kriminalitätsanstieg im Bereich Prostitution, Frauenhandel, Vergewaltigung und Entführung geführt. [...]

Obwohl es insoweit Anträge von Parlamentariern des Volkskongresses und Empfehlungen von Kommissionen für Familienplanungspolitik in Richtung der Einführung einer "Zwei-Kind-Politik" gegeben hat, ist es jedenfalls bisher nicht zu wirklich grundlegenden Reformen gekommen, bzw. diese sind bisher nur halbherzig angegangen worden und haben sich obendrein noch als wenig effektvoll erwiesen. [...]

Ansonsten aber hat es keine wirklich grundlegenden Neuerungen gegeben. Es mag sein, dass es inzwischen nicht mehr ganz so viele Zwangssterilisationen bzw. Zwangsabtreibungen gegenüber Eltern unerlaubt gezeugter Kinder gibt, dass das Vorgehen von Beamten der Familienplanungs-Behörden von der chinesischen Öffentlichkeit mittlerweile etwas kritischer betrachtet wird, dass es Vorschriften gegenüber entsprechender Beamtenwillkür gibt und dass eine vorherige Geburtsgenehmigung nicht mehr erforderlich ist. Nach wie vor aber gilt, dass Eltern mit empfindlichen Bußgeldsanktionen (sogenannte "Soziale Kompensationsgebühren") zu rechnen haben, wenn sie unerlaubt zweite oder dritte Kinder bekommen. [...]

Werden solche Bußgelder nicht bezahlt oder können sie nicht aufgebracht werden, so darf eine Eintragung des Kindes in das sogenannte Haushaltsregister "Houkou" nach wie vor nicht vorgenommen werden. Das heißt, diese Kinder bleiben in jeder Hinsicht und in mannigfaltiger Weise völlig rechtlos gestellt und vermehren so die große Zahl von sogenannten "Geisterkindern", die es legal gar nicht geben dürfte, die mangels Houkou nicht nur jegliche Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnsitznahme, Arbeitsaufnahme, und so weiter versagt bekommen, sondern von der chinesischen Bevölkerung verachtet werden, die es noch immer als antipatriotisch ansieht, mehr als nur ein Kind zu haben (siehe etwa The Economist, 11.6.2015 zum Nimbus des Patriotischen einer Ein-Kind-Familie; siehe ferner Spiegel-Online, 9.1.2014 zu der öffentlichen Entschuldigung des berühmten Regisseurs Zhang Yimou, für seine unerlaubten Kinder und für die dadurch von ihm verursachten "negativen sozialen Einflüsse"). Diese Kinder leben infolge ihrer juristischen Nichtexistenz und der damit verbundenen tagtäglichen Probleme völlig isoliert und ausgeschlossen im Halbschatten der Gesellschaft als sogenannte "heihu"- d.h. illegale Menschen, finden häufig deshalb auch keine Freunde oder später gar Lebenspartner und können sich ohne Houkou nicht einmal in größeren Umkreisen bewegen, da selbst für Fernreisen, Zugfahren etc. wiederum ein Houkou Voraussetzung ist [...].

Eltern, die ein Bußgeld nicht zahlen können, werden in aller Regel auch aus ihren Arbeitsverhältnissen gekündigt, oft auch inhaftiert, aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, nicht selten von den korrupten Beamten der Familienplanungsbehörde immer wieder zu Zahlungen erpresst, und gelegentlich noch mit der Durchsuchung und gar völligen Zerstörung ihres Privateigentums sanktioniert.

Das Auswärtige Amt schildert insoweit in seinem Lagebericht (Stand Mai 2014), dass es zwar gegenüber Auslandsrückkehrern, die mit einem im Ausland gezeugten Kind zurückkehren, eine gesetzlich vorgeschriebene Entziehung des Kindes nicht mehr gebe, dass es aber gleichwohl "gelegentlich" (d.h. immer mal wieder) Fälle gibt, in denen die Behörden den Familien als Strafe für die Nichteinhaltung der Familienplanungspolitik oder die Nichtzahlung der dafür festgesetzten enormen Geldbußen die Kinder wegnehmen, an Waisenhäuser verkaufen und von dort manchmal sogar noch gegen hohe Beträge zur Adoption ins Ausland vermitteln. "Immer wieder" sei die Kontrolle der staatlichen Familienplanungspolitik mit gravierenden Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Zwangsabtreibungen selbst in fortgeschrittenen Schwangerschaftsstadien verbunden. Häufig würden unverheiratete Frauen von den Behörden zu "freiwilligen" Abtreibungen gedrängt (AA, Lagebericht China 2014, S. 21).

Das deckt sich mit den neuesten seit den letzten beiden Entscheidungen des Gerichts vom 12.3.2014 veröffentlichten Analysen und Lageberichten anderer Auskunftsquellen zu diesem Thema (Britisches Home Office, July 2015, Country Information and Guidance - China: Contravention of National Population and Family-Planning Laws, Ziff. 2.3.2. - 2.3.6., wonach es auch nach Änderung der Erlaubnismöglichkeit für ein zweites Kind für Eltern, von denen nur einer selbst aus einer Ein-Kind-Familie stammt, bisher nicht zu einer Entspannung auf Seiten der Familienplanungsbehörden gekommen ist, sondern diese nach wie vor mit harschen Maßnahmen die Geburtenkontrollpolitik durchsetzen, allein schon deshalb, weil die Eintreibung der extrem hohen Bußgelder eine bedeutende Einkommensquelle für die örtlichen Familienplanungsbehörden darstellt, siehe dazu auch Ziffern 5.3.2., 5.3.5.; 5.4.3.; 5.4.5; 5.4.8.; 5.5.4; 5.7.1. - 5.7.6; siehe ferner: Immigration and Refugee Board of Canada, 16.10.2014, dort Ziff. 2.2. und 3.2.; US-Dept.of State, Country Report on Human Rights Practices 2014 - China, Section: Women - Reproductive Rights = www.ecoi.net/local_loin/306284/443559_de.html; ACCORD - Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, vom 21.11.2014; Australian Government - Migration Review Tribunal - Refugee Review Tribunal, 3. Auflage, 8.3.2013 - letzter Änderungsstand: 8.9.2013: Background Paper China: Family Planning - Ziff. 3.4.2., 4.4., 5., 6.2. und 6.3.).

All diesen Berichten ist im Übrigen auch zu entnehmen, dass eines der Haupthindernisse einer raschen Beseitigung der harschen Geburtenkontrollpolitik das handfeste wirtschaftliche Interesse der Familienplanungsbehörden ist, die mit der Erhebung von Bußgeldern für ihre Behörde aber auch für die damit befassten Beamten persönlich verknüpften Möglichkeiten zur Einkommenserzielung zu nutzen, und dass die Beamten und Behörden ihrerseits nach wie vor einer unverändert strikten Kontrolle der Einhaltung ihrer "Planziele" in Sachen Geburtenkontrollpolitik unterliegen und Beförderungen von den erreichten Verhinderungen bzw. Sanktionierungen unerlaubter Geburten abhängig gemacht werden und sie ansonsten auch durch entsprechende Berichts- und Dokumentationspflichten dauernd unter Erfolgsdruck gesetzt bzw. sie bei Nichterreichen der Ziele mit Sanktionen belegt werden (siehe insoweit etwa The Economist, vom 10.1.2015 - Enforcing with a smile: "Changing officials habits could prove hard. For 35 years the enforcers have been evaluated ruthlessly by their superiors fort her fulfillment of quantifiable targets"; ebenso Home Office, July 2015, Ziff. 5.3.1. unter Verweis auf US Dept.of State, Country Report China 2014, wonach die Beamten der Familienplanungsbehörden mit Beförderungen aber auch Bestrafungen zur Einhaltung der Zahlenziele in ihren Abteilungen gedrängt werden und Ziff. 2.3.6, wonach sie ihre strenge Durchsetzung der Familienplanungsziele, zu der sie erneut durch die Kommunistische Partei im November 2013 aufgerufen worden seien, nicht gelockert hätten). [...]

Auch an der rechtlichen Würdigung, dass dies in Anknüpfung an die Zugehörigkeit des Klägers zu einer sozialen Gruppe eine Verfolgungshandlung von menschenrechtsverletzendem Gewicht darstellt, hält das Gericht nach wie vor fest.

Die gegenteiligen mittlerweile ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen vermögen insoweit nicht zu überzeugen (vgl. BayVGH, B. v. 8.1.2015 - 15 ZB 15.30001; VG Frankfurt a.M., B. v. 23.10.2014 - 2 L 2186/14.F.A.; VG Bayreuth, U. v. 4.11.2014 - B 3 K 13.30190; VG Frankfurt a.M., U. v. 20.3.2014 - 2 K 2826/13/F.A.; VG Meiningen, U. v. 2.4.2014 - 1 K 20223/10 Me. - alle in juris).

Die Gruppe der - aus Sicht der chinesischen Regierung und Mehrheitsbevölkerung - "kinderreichen" Familien, bzw. der Kinder mit einem oder mehr Geschwistern, ist eine klar erkennbare und gesellschaftliche wahrnehmbare Gruppe. Dass unter Umständen Ausnahmen für einzelne Zweit- oder gar Drittkinder möglich sein mögen, je nach Provinz, Ausnahmetatbestand oder Bußgeldzahlung, und daher verschiedene Gruppenbildungen möglich sind, ändert (entgegen der in der oben zitierten Verwaltungsgerichtsrechtsprechung vertretenen Ansicht) nichts daran, dass es in der jeweiligen Provinz, die man aufgrund des houkou-Systems legal nicht einfach verlassen kann, im Grundsatz diese Zielgruppe ist, auf die sich - wenn eben solche Ausnahmetatbestände nicht vorliegen - die Sanktionspolitik der chinesischen Regierung richtet.

Die unter Verstoß gegen diese Grundregeln gezeugten Kinder sollen nämlich entweder durch Zwangsabtreibung schon am Geborenwerden gehindert und eliminiert werden bzw. die Geburt weiterer solcher Kinder durch die Zwangssterilisation ihrer insoweit als asozial eingestuften Eltern verhindert werden, die der "sozialen" Gruppe der asozial die Mehrheitsbedürfnisse nach Bevölkerungskontrolle missachtenden Eltern zuzurechnen sind, bzw. die gleichwohl existierenden Kinder werden, falls für sie kein Bußgeld gezahlt werden kann und da man sie nach ihrer Geburt nicht mehr umbringen kann und will, dann eben als juristisch nicht existent ins Vakuum der Rechtlosigkeit gestoßen, indem man ihnen die in jeder Hinsicht für ein Überleben in der chinesischen Gesellschaft unerlässliche houkou-Registrierung verweigert wird und sie damit zum Dahinvegetieren als Entrechtete am Rande der Gesellschaft verdammt.

Diese bewusst als Sanktion verhängte Vorenthaltung von Ausbildungs- und Gesundheitsversorgungsleistungen, die dem Staat möglich sind und auch tatsächlich von ihm erbracht werden, stellt insofern eine gezielte und bewusste Benachteiligung und somit etwas ganz anderes dar, als das generelle Fehlen solcher staatlicher Leistungen in Staaten, die solche nicht aufbringen können, und auf die nach den internationalen Menschenrechtsstandards zwar ein Recht bestehen mag, das aber wie bei allen sozialen Rechten nur unter dem Vorbehalt des Finanzierbaren und Möglichen gewährt werden kann. Die generelle Verweigerung einer houkou-Registrierung als Sanktion für eine unerlaubte Geburt ist auch etwas anderes als die in China vorzufindende Zweiteilung in houkou-Registrierungen für den Aufenthalt auf dem Land bzw. für den Aufenthalt in der Stadt, welche zahlreichen Wanderarbeitnehmer, die nur eine ländliche houkou-Registrierung besitzen, von einem legalen Leben, Wohnen und Arbeiten in der Stadt ausschließt und sie - falls sie sich dort doch aufhalten - in den Städten in die Illegalität drängt, wo sie und ihre Kinder mangels städtischer houkou-Registrierung keinen Anspruch auf Schulbesuch, Gesundheits- und Sozialleistungen haben (zu diesem System: The Economist vom 20.3.2014 - Urbanisation, Moving on Up).

Die Verweigerung der houkou-Registrierung stellt mithin nicht nur im asylrechtlichen Sinne wortwörtlich eine "Ausgrenzung aus der staatlichen Friedensordnung" dar, sondern eben auch eine flüchtlingsrechtliche Verfolgung in Anknüpfung an eine soziale Gruppenzugehörigkeit, nämlich die Gruppe der per se als "überflüssig" angesehenen Menschen in China.

Das haben in sehr ausdifferenzierten gründlichen Entscheidungen zur Anwendbarkeit des Begriffs der "sozialen Gruppe" im Sinne der GFK auf unerlaubte chinesische "Schwarzkinder" unter anderem der High Court of Ireland und der High Court of Australia sowie das Refugee Review Tribunal von Australien so in den letzten Jahren entschieden (vgl. High Court - Ireland, Decision, dated 12/10/2014, in der Sache: S.J.L. - vs. - Refugee Appeals Tribunal & ors. - [2014] IEHC 608, Rz. 14. ff. [50.]; High Court of Australia, in der Sache: A. vs. Minister for Immigration and Ethnic Affairs, Decision dated 24.2.1997 - [1997] HCA 4; (1997) CLR 225; (1997) 142 ALR 331; und Australian Refugee Review Tribunal, Decision dated 1.3.2012 , RRT Case Number: 1108245 [2012] RRTA 120). Auch das britische Home Office ist offenbar der Ansicht, dass Mütter, die unter Verstoß gegen die chinesische staatliche Geburtenkontrollpolitik ein Kind bekommen haben, flüchtlingsrechtlich eine "soziale Gruppe" darstellen (siehe Home Office, July 2015, a.a.O. Ziff. 2.2.1. unter Verweis auf Country Guidance Case of AX [Family Planning Scheme] China CG [2012] UKUT 00097 [IAC] vom 16.4.2012). Auf diese Entscheidungen wird im Einzelnen verwiesen. Wie der Ausschuss des amerikanischen Kongresses zu China (Congressional Executive Commission on China - One Year Later, Initial Impact of China´s Population Planning Policy - mAdjustment smaller than expected, 9.12.2014) ausführte, verletze die chinesischen Geburtenkontrollpolitik unter anderem die Standards wie sie in der "Bejing Declaration and Platform for Action" von 1994 und in dem "Programme of Action of the Cairo Intl. Conference on Population and Development" festgelegt sind, ebenso, wie der Ausschluss von unerlaubten Kindern aus dem Registrierungssystem (Houkou) eine nach der "Internationalen Konvention zum Schutz der Kinderrechte" und nach dem Internationalen Pakt über die Wirtschaftlichen, Sozialen und Kulturellen Rechte verbotene Diskriminierung darstelle.

Vor diesem Hintergrund lässt sich - anders als von den genannten Verwaltungsgerichten vertreten - die chinesische Geburtenkontrollpolitik nicht einfach als eine jeden gleichermaßen ohne Unterschied treffende und daher nicht diskriminierende, rein ordnungspolitische Maßnahme zur Bekämpfung einer für das wirtschaftliche und soziale Überleben des chinesischen Staates und seiner Einwohner schädlichen Überbevölkerung einstufen. Vielmehr liegt die Diskriminierung hier bereits darin, dass diese Maßnahmen an die Ausübung eines allgemeinen Menschenrechts zur freien Entscheidung über die eigene Reproduktion anknüpft, also an ein im Grundsatz erlaubtes Verhalten, das genauso schutzwürdig ist, wie das Ausleben einer politischen oder religiösen Überzeugung, und daher für staatliche Eingriffe keinen legitimen Anknüpfungspunkt darstellen kann.

Selbst wenn man aber die Zielsetzung einer Eindämmung der Bevölkerungszahl als eine legitime ordnungspolitische unpolitische und nichtdiskriminierende Zielsetzung ansieht, deren Verfolgung - zumindest im Grundsatz - einen Eingriff in das Menschenrecht auf freie Entscheidung über die eigene Reproduktion - etwa als gleichgewichtiger Wert von Verfassungsrang bzw. wegen kollidierender Grundrecht Dritter rechtfertigen könnte, lässt sich im Fall der chinesischen Bevölkerungspolitik nicht übersehen, dass diese sich selbst unter diesen Gesichtspunkten als unverhältnismäßig, überflüssig und im Ergebnis (s.o.) sogar im Gegenteil als sozial schädlich erwiesen hat und daher solche Eingriffe schon deshalb nicht zu rechtfertigen vermochte und nach wie vor nicht vermag (siehe insoweit den Artikel in The Economist, 11.7.2015, mit einer unter dem Titel "unnecessary force" abgedruckten Tabelle der Weltbank zum Rückgang der Bevölkerungszahlen auch in Ländern, wie unter anderem sogar im bevölkerungsreichen Indien, die eine solche harsche Politik der Bevölkerungskontrolle nicht betrieben haben). Die Maßnahmen der chinesischen Politik, die in erster Linie auf gewaltsame Vernichtung der Reproduktionsfähigkeit von Eltern mit überschießendem Kinderwunsch durch Zwangsterilisation abzielen, bzw. auf die Eliminierung unerlaubt empfangener Föten (durch Zwangsabtreibung) bzw. auf die Ausgrenzung und Rechtlosstellung gleichwohl geborener "überzähliger" unerlaubter Kinder abzielen, erweisen sich zudem wegen ihres direkten Durchgriffs auf den Wesenskern der Existenz und die Integrität ihrer menschlichen Zielobjekte schließlich auch schon deshalb als diskriminierend, weil sie an deren So-Sein bzw. an deren menschenrechtlich geschütztem Verhalten ansetzen und unverhältnismäßig sind, da demgegenüber bedenkenfreie Maßnahmen zur Bevölkerungsstabilisierung, wie etwa wirtschaftliche Anreize, die Einführung eines Sozialversicherungssystems, Aufklärung und vor allem auch Verhütungskampagnen als mildere Mittel zur Verfügung stehen und insoweit überall sonst in der Welt zur Bevölkerungskontrolle genutzt werden, während in China zwar 85 Prozent der Frauen empfängnisverhütende Mittel benutzen, aber offenbar nur 12 % der Frauen zwischen 25 und 30 Jahren die Verhütungsmethoden wirklich verstanden haben und 68 % der Frauen sich über die Methoden und ihre Wirkung im Einzelnen im Unklaren waren (vgl. Home Office, July 2015, a.a.O., Ziff. 5.2.2. unter Verweis auf US Dept. of State, Country Report China 2014, a.a.O.).“

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat für die Beurteilung der Situation des Klägers, dessen Eltern ebenfalls aus der Provinz Fujian stammen, an und macht sie sich unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen zu Eigen. Seit Herbst 2015 ist China allerdings zu einer "Zwei-Kind-Politik" übergangen (vgl. etwa Auswärtiges Amt Lagebericht vom 20.11.2015), die auch mittlerweile umgesetzt wird und zu ersten Nachregistrierungen der "Zweitgeborenen" geführt hat und weiter führt (vgl. Nathan van der Klippe in The Globe and Mail vom 03.04.2016). Dass sich hierdurch auch mittelbar die Situation der "Drittgeborenen" oder, wie der Kläger, der "Viertgeborenen" grundlegend geändert haben könnte, ist nach den vom Senat zusätzlich herangezogenen Erkenntnismitteln, insbesondere auch nach dem Lagebericht vom 20.11.2015, nicht ersichtlich und bleibt abzuwarten. Nach wie vor können sich die Betroffenen oder deren Eltern nur durch die Zahlung horrender Summen "freikaufen", wozu die Eltern, die, wie sich in der mündlichen Verhandlung ergeben hat, nach wie vor faktisch (so die Mutter) bzw. aus ausländerrechtlichen Gründen (so der Vater) nicht arbeiten, ersichtlich nicht in der Lage sein werden.

Was die Begriffsbestimmung der sozialen Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG betrifft, ist mit Rücksicht auf die Ausführungen im angegriffenen Urteil zur Verdeutlichung noch darauf hinzuweisen, dass es hierfür unerheblich ist, dass etwa alle Mitglieder der Gruppe auch tatsächlich verfolgt werden. Dass etwa, wie hier, unter Umständen einzelne Angehörige der Gruppe sich durch die genannten Bußgeldzahlungen freikaufen können, ist nicht von Belang. Die Bestimmung der sozialen Gruppe und das Phänomen der Gruppenverfolgung dürfen nämlich nicht in eins gesetzt werden (vgl. etwa Marx, Handbuch des Flüchtlingsrechts, 2. Aufl., § 24 Rn. 16 ff.; Göbel-Zimmermann/Hruschka, in: Huber, AufenthG, 2. Aufl., § 3b AsylG Rn. 31). [...]