VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Beschluss vom 22.06.2016 - 1 B 123/16 - asyl.net: M24232
https://www.asyl.net/rsdb/M24232
Leitsatz:

Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist nur das Nichtvorliegen eines (abstrakten) Ausweisungsinteresses. Der Anwendungsbereich von § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG ist von vornherein nicht eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, Aufenthaltstitel, Ausweisungsinteresse, Strafmaß, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Straftat,
Normen: AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9,
Auszüge:

[...]

Anders als die Antragsgegnerin meint, besteht zudem kein Ausweisungsinteresse (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). In Betracht käme insoweit allein ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG. Nach dieser Bestimmung wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Demnach genügt für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses ein vereinzelter Verstoß, wenn er nicht geringfügig ist (Hamburgisches OVG, Urteil vom 17.12.2015, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 79).

aa) Die Kammer folgt der Auffassung, wonach Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nur das Nichtvorliegen eines (abstrakten) Ausweisungsinteresses ist. Ein Ausweisungsinteresse besteht bereits dann, wenn der Ausländer einen der in § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG genannten Tatbestände verwirklicht. Nicht erforderlich ist, ob die Ausländerbehörde gegenüber dem Ausländer im konkreten Fall nach Abwägung des Ausweisungs- und Bleibeinteresses rechtmäßig eine Ausweisungsverfügung erlassen könnte (vgl. Hamburgisches OVG, Urteil vom 17.12.2015 – 4 Bf 137/13 –, Rn. 42-44; Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.03.2016 – 10 ZB 14.2634 –, Rn. 6; jeweils juris und mit weiteren Nachweisen; Samel, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 5 AufenthG Rn. 47; krit.: Bender/Leuschner, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 AufenthG Rn. 17; s.a. VG Saarland, Beschluss vom 25.02.2016 – 6 L 2026/15 –, juris, Rn. 12). Denn mit der Ersetzung des Begriffs des "Ausweisungsgrundes" durch den des "Ausweisungsinteresses" mit Wirkung zum 01.08.2015 wollte der Gesetzgeber keine materielle Änderung verbinden (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 35).

bb) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG liegen zwar vor: [...]

cc) Allerdings ist nach Auffassung der Kammer der Anwendungsbereich von § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG von vornherein nicht eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht.

Würde man bei rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen, durch die § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG nicht erfüllt werden, über Nr. 9 Var. 1 einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften annehmen, so hätten die in § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG genannten Tatbestände keine eigenständige Bedeutung mehr, es sei denn, es läge ein Fall von Nr. 3 bis 8 vor (Cziersky-Reis, in: Hofmann, a.a.O., § 54 Rn. 69). Ein solches Verständnis widerspricht der Gesetzessystematik (s.a. Stellungnahme des Bundesrates, BR-Drucks. 642/14 (Beschluss), S. 25 f.).

Soweit der Gesetzgeber der Vorschrift des § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG eine Auffangfunktion zugedacht hat (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drucks. 18/4097, S. 52; Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 18/4199, S. 6), überzeugt diese Einordnung ebenfalls nicht. Das seit dem 01.01.2016 geltende Ausweisungsrecht kennt keine Ermessensausweisung (vgl. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.) mehr, sondern setzt für die Zulässigkeit der Ausweisung stets eine Abwägung voraus (§ 53 Abs. 1 AufenthG). Ist der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 9 Var. 1 AufenthG erfüllt, ohne dass zugleich die Voraussetzungen von § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 2 AufenthG gegeben sind, kann allenfalls ein weniger gewichtiges, in die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG einzustellendes Ausweisungsinteresse bestehen (ausführlich: Cziersky-Reis, a.a.O., § 54 AufenthG Rn. 70; s.a. Bauer, a.a.O., § 54 Rn. 76).

dd) Nach Auffassung der Kammer nimmt das Merkmal des Nichtbestehens eines Ausweisungsinteresses in § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG auf die Tatbestände des mit "Ausweisungsinteresse" überschriebenen § 54 AufenthG Bezug. Nicht gemeint ist hingegen ein Ausweisungsinteresse, das weder besonders schwer noch schwer wiegt und das lediglich mit geringerem Gewicht in die Abwägungsentscheidung nach § 53 Abs. 1 AufenthG einzustellen wäre. Dies gilt bereits aus Gründen der Normenklarheit. Ansonsten könnte der Ausländer bei Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis nicht absehen, ob ein der Erteilung entgegenstehendes Ausweisungsinteresse bestehen wird oder nicht. [...]