Asylsuchenden aus Syrien droht bei Rückkehr ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit staatliche Verfolgung, womit ein beachtlicher Nachfluchtgrund gegeben ist (VG geht diesbezüglich von "mittlerweile ganz überwiegender Rechtsprechung" aus). (VG entschied per Gerichtsbescheid, da es keine besonderen Schwierigkeiten in der Sache sieht; bezieht sich ausführlich auf VG Regensburg, Urteil vom 6.7.2016, RN 11 K 16.30889, asyl.net: M24004 (Asylmagazin 8/2016) und zitiert u.a. UNHCR und ProAsyl.)
[...]
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. [...]
Das Bundesamt erkannte dem Kläger mit Bescheid vom 28. April 2016 den subsidiären Schutzstatus zu (Nr. 1) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Nr. 2). [...]
Entscheidungsgründe
Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Der Kläger ist zu dieser Entscheidungsform gehört worden (§ 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Die Beklagte hat mit den allgemeinen Prozesserklärungen vorn 25. Februar und 24. März 2016 (Az. 414-7604/1.16 und 234-7604/2.16) ihr Einverständnis zu dieser Vorgehensweise erklärt. [...]
Nach Überzeugung des Gerichts befindet sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch den syrischen Staat wegen seiner vermuteten kritischen Überzeugung außerhalb Syriens, § 3 Abs. 1, 4 AsylG. Es kann dahinstehen, ob er Syrien wegen Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift verlassen hat; es droht ihm jedenfalls bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine solche. [...]
Es kann dahinstehen, ob der Kläger vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist, denn der Kläger kann sich auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Die Kammer geht mit Blick auf die Erkenntnismittel und die aktuelle Situation in Syrien im Einklang mit der mittlerweile ganz überwiegenden Rechtsprechung davon aus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimat ungeachtet individuell geltend gemachter Gründe und deren Glaubhaftigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung droht. Es ist anzunehmen, dass der syrische Staat gegenwärtig das Stellen eines Asylantrags im Zusammenhang mit einer (illegalen) Ausreise und dem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland als Anknüpfungspunkt und Ausdruck einer politisch missliebigen Gesinnung und damit als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber diesem verletzt (grundlegend: OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 18.07.2012, Az. 3 L 147/12; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 9.01.2014, Az. OVG 3 N 91.13; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 29.10.2013, Az. A 11 S 2046/13; VG Regensburg, Urt. v. 6.07.2016, Az. RN 11 K 16.30889 - noch nicht veröffentlicht; VG Köln, Urt. v. 18.06.2015, Az. 20 K 4052/14.A; VG Augsburg, Urt. v. 25.11.2014, a.a.O.; VG Frankfurt/Oder, Urt. v. 26.09.2014, Az. 3 K 1489/13.A; VG Gießen, Urt. v. 17.07.2014, Az. 2 K 3472/12.GI.A; VG München, Urt. v. 9.07.2014, Az. M 22 K 14.30752; VG Aachen, Urt. v. 21.11.2013, Az. 9 K 1844/13.A; VG Kassel, Urt. v. 2.07.2013, Az. 5 K 200/13.KS.A; VG Stuttgart, Urt. v. 15.3.2013, Az. A 7 K 2987/12; VG Regensburg, Gerichtsbescheid v. 14.3.2013, Az. RN 6 K 12.30059; VG Aachen, Urt. v. 11.01.2012, Az. 9 K 1698/10.A - alle Entscheidungen juris). Ein solches Verhalten wird – ungeachtet einer tatsächlichen oppositionellen Haltung des Einzelnen – vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst. Zumindest Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und damit auch aus Deutschland haben in der Regel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder wohl zumeist nur vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen.
Das VG Regensburg (Urt. v. 6.07.2016, a.a.O.) führt hierzu zutreffend aus:
"Diese Beurteilung rechtfertigt sich nach wie vor aus der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen Abschiebestopps im April 2011 aus Deutschland und anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, der umfassenden Beobachtung syrischer Staatsangehöriger im Ausland durch die syrischen Geheimdienste, der Eskalation der innenpolitischen Situation seit dem März 2011 und dem Umgang der syrischen Behörden insbesondere seit Beginn 2012 mit Personen, die aus ihrer Sicht verdächtig sind, die Opposition zu unterstützen (vgl. VG Augsburg vom 25.11.2014 a.a.O. m.w.N.; OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 a.a.O). Rückkehrer haben im Fall einer Abschiebung nach Syrien eine obligatorische Befragung durch die Sicherheitskräfte unter anderem zur allgemeinen Informationsgewinnung über die Exilszene zu erwarten. Es ist davon auszugehen, dass bereits diese Befragung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefährdung in Form menschenrechtswidriger Behandlung bis hin zur Folter auslöst (vgl. VG Köln vom 18.6.2015 a.a.O.). Das Gericht folgt der durch das OVG Sachsen-Anhalt erarbeiteten und nach wie vor gültigen Gesamtschau der Situation, wonach der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den längeren Aufenthalt im Ausland zum Anlass für Verfolgungsmaßnahmen nimmt (vgl. auch VG Frankfurt Oder vom 26.9.2014)."
Hinsichtlich der Behandlung der aus westlichen Ländern abgeschobenen Personen fehlt es zwar für die letzten Jahre an belastbaren Zahlen der Rückkehrer. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mit der Verschärfung des inneren Konflikts in Syrien in den Jahren 2011/2012 wegen verschiedener Abschiebestopps keine abgelehnten Flüchtlinge abgeschoben wurden. Bis vor kurzer Zeit entsprach es der Praxis der Beklagten syrischen Flüchtlingen grundsätzlich den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen, so dass keine Abschiebungen erfolgten. Dies gilt auch im Hinblick auf die mittlerweile stärker verbreitete Entscheidungspraxis der Beklagten, Syrern nur noch den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. Die Beurteilung der im Falle einer Rückkehr drohenden Verfolgung und ihres Charakters kann daher nach wie vor nur im Wege einer Prognose aufgrund der zur Verfügung stehenden verifizierbaren Tatsachenberichte zu Verfolgungshandlungen gegenüber politischen Gegnern im Inland erfolgen (vgl. VG Meiningen vom 27.3.2014 Az. 1 K 20092/12 Me). Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt das Gericht auf die Darstellung des Schicksals von Einzelpersonen in dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 und die dort dargestellte Verschärfung der innenpolitischen Situation Bezug.“
Es ist nicht ersichtlich, dass sich an der Lage in Syrien und damit auch an dieser Einschätzung etwas geändert hat. Die Beklagte ist weder in dem streitgegenständlichen Bescheid, noch im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren auf eine mögliche Gefährdung des Klägers im Falle der Rückkehr nach Syrien eingegangen. Das Gericht kann auch nicht nachvollziehen, weshalb die Beklagte in teilweiser Abkehr ihrer bisherigen behördlichen Entscheidungspraxis Syrern mittlerweile nur noch subsidiären Schutz gewährt und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation in Syrien lässt das Vorbringen der Beklagten gänzlich vermissen.
Auch die steigende Zahl an Flüchtlingen aus Syrien hat nicht zur Folge, dass der einzelne sich im westlichen Ausland aufhaltende Flüchtling aufgrund dieses Massenphänomens nicht mehr als potentieller politischer Gegner des Regimes angesehen wird. Es ist vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, dass rückkehrende Asylbewerber politisch verfolgt werden, weil die syrische Regierung den Bürgerkrieg für eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung ansieht (vgl. VG Stuttgart, Urt. v. 15.03.2013, a.a.O.). Unter den derzeitigen Umständen wird jeder sich im westlichen Ausland aufhaltende Syrer im Falle seiner Rückkehr als möglicher Oppositioneller angesehen (vgl. VG Aachen, Urt. v. 11.01.2012, Az. 9 K 1698/10.A). Auch die obligatorische Befragung durch syrische Sicherheitskräfte bei der Rückkehr knüpft an die vom Staat unterstellte politische Überzeugung an (vgl. VG Köln, Urt. v. 22.05.2014, Az. 20 K 3152.13.A).
Diese Einschätzung wird auch durch die vorhandenen, aktuellen Erkenntnisquellen bestätigt. Hinsichtlich der Bewertung wird auf die oben in Bezug genommene Rechtsprechung und die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse verwiesen. Im Übrigen wird auf die Einzeldarstellung im Urteil des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt vom 18. Juli 2012 (a.a.O. - juris Rn. 29 ff.) hingewiesen.
Die aktuellen "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen" (4. aktualisierte Fassung vom November 2015) führen aus, dass der Konflikt mit unverminderter Intensität fortgesetzt werde. Es sei von einer "immer schwierigeren Sicherheits- und Menschenrechtslage und humanitären Situation in Syrien" auszugehen. Aufgrund einer weiterhin fehlenden politischen Lösung begrüßt der UNHCR die Tatsache, dass viele Regierungen Maßnahmen ergriffen hätten, um die zwangsweise Rückführung von syrischen Staatsangehörigen oder Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien auszusetzen, einschließlich solcher Personen, deren Asylanträge abgelehnt werden seien. Nach Einschätzung des UNHCR sei es wahrscheinlich, dass die meisten asylsuchenden Syrer die Kriterien für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllten, da sie eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen eines oder mehrerer Gründe der GFK hätten. Weiter heißt es in dem UNHCR-Bericht:
"Für viele aus Syrien geflohene Zivilisten besteht der kausale Zusammenhang mit einem Konventionsgrund in der direkten oder indirekten, tatsächlichen oder vermeintlichen Verbindung mit einer der Konfliktparteien. Für die Erfüllung der Kriterien der Flüchtlingsdefinition ist es nicht erforderlich, dass eine tatsächliche oder drohende Verfolgung auf sie persönlich, im Sinne eines "persönlichen Ausgewähltseins" abzielt. Syrischen Staatsangehörigen und Personen mit gewöhnlichem Aufenthaltsort in Syrien, die aus dem Land geflohen sind, kann beispielsweise Verfolgung aufgrund einer politischen Überzeugung drohen, die ihnen gemäß einer vermeintlichen Verbindung mit einer Konfliktpartei unterstellt wird, oder aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ihrer ethnischen Identität oder abhängig davon, welche Konfliktpartei die Nachbarschaft oder das Dorf kontrolliert, aus dem die Betroffenen stammen."
Auch wenn das Gericht nicht an die Einschätzung des UNHCR gebunden ist, teilt es dessen Einschätzung, dass sich die Lage in Syrien im Vergleich zu den Jahren 2012/2013 weiter verschlechtert hat.
Soweit die Beklagte mitunter vorträgt, die vermehrte Ausstellung syrischer Pässe spreche gegen die Annahme staatlicher Verfolgung syrischer Rückkehrer und Rückkehrerinnen, kann dem nicht gefolgt werden. Nach Angaben von Pro Asyl verfolgt das syrische Regime auch ökonomische Interessen. An der Ausstellung von ca. 800.000 Pässen verdiene es ca. 470 Mio. Euro (Pressemitteilung v. 8.06.2016).
Das VG Regensburg (Urt. v. 29.06.2016, Az. RN 11 K 16.30666 - juris) hat hierzu zutreffend ausgeführt:
"Bezüglich der Motivation zur vermehrten Ausstellung syrischer Pässe durch Stellen innerhalb Syriens, aber auch durch die syrischen Auslandsvertretungen, weist das Auswärtige Amt darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Lage des syrischen Regimes im ersten Quartal 2015 vermutlich weiter verschlechtert habe. Hierauf würden damalige intensive Verhandlungen über neue Kreditlinien mit Russland und dem Iran, die steigende Inflation, der Verfall der Infrastruktur, sowie der Verlust von Wirtschaftsräumen hindeuten. Es sei zu vermuten, dass speziell Einnahmen aus Passgebühren dem allgemeinen syrischen Staatshaushalt zugute kämen."
Dem Kläger steht keine sichere, innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG zur Verfügung, da nur die Möglichkeit einer Einreise über den von syrischen Regierungskräften kontrollierten Flughafen von Damaskus besteht.
Die Flüchtlingsanerkennung scheidet auch nicht aus anderen Gründen aus. Es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien politische Verfolgung droht, weil er die vermutete Systemfeindlichkeit im Rahmen einer Befragung durch die syrischen Sicherheitsbehörden nicht wird widerlegen können. [...]