1. Das Rechtsschutzbedürfnis an einer Klage zur Erlangung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG besteht auch wenn die betroffene Person bereits eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG innehat, da erstere eine vom Flüchtlingsstatus unabhängige zusätzliche Aufenthaltsverfestigung bewirkt.
2. Einer Person können mehrere unterschiedliche Aufenthaltstitel erteilt werden.
3. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gem. § 28 Abs. 2 AufenthG setzt voraus, dass die betroffene Person drei Jahre im Besitz einer speziell zum Familiennachzug zu Deutschen gem. § 28 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis ist (zitiert VGH Bayern Urteil vom 05.08.2015 - 10 B 15.429 - asyl.net: M23607).
4. Die rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels kann nur für den Zeitraum nach entsprechender Antragstellung bei der Behörde erfolgen.
[...]
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Dabei ist - entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten geäußert im erstinstanzlichen Verfahren - allerdings nicht davon auszugehen, dass die bereits am 4. November 2013 gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG erteilte Niederlassungserlaubnis das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage in Frage stellt. Selbst wenn der zusätzliche Besitz einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG die aufenthaltsrechtliche Rechtsposition des Klägers nicht ohne weiteres verbessert, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis auf der Grundlage des § 28 Abs. 2 AufenthG für ihn völlig nutzlos wäre. Mit dem Erlöschen der Flüchtlingsstellung ist zwar nicht automatisch der Verlust der gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG erteilten Niederlassungserlaubnis verbunden. Die Niederlassungserlaubnis kann aber beim Erlöschen oder Unwirksamwerden der Flüchtlingsstellung gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG widerrufen werden. Der Kläger muss sich in diesem Zusammenhang nicht entgegenhalten lassen, dass ein etwaiger Widerruf der nach § 26 Abs. 3 AufenthG erteilten Niederlassungserlaubnis trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG wegen des familiären Bezuges praktisch ausgeschlossen sei. Der Besitz einer weiteren Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG bewirkt jedenfalls für den Kläger eine von der Flüchtlingsstellung unabhängige zusätzliche Aufenthaltsverfestigung.
Auch materiell steht dem Anspruch nicht entgegen, dass der Kläger bereits im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG ist. Ein Verbot beider Aufenthaltstitel nebeneinander mit der Folge, dass dem Kläger die Niederlassungserlaubnis nur einmal erteilt werden könnte, lässt sich den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes nicht entnehmen. Dass einem Ausländer mehrere unterschiedliche Aufenthaltstitel erteilt werden können, hat das Bundesverwaltungsgericht für das Nebeneinander von Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG und Erlaubnis zum Daueraufenthalt–EG gemäß § 9a AufenthG ausdrücklich bestätigt (BVerwG, Urteil vom 19. März 2013 - 1 C 12.12 -, BVerwGE 146, 117). Für die gleichzeitige Erteilung zweier Niederlassungserlaubnisse - zum einen aus humanitären Gründen gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG und zum anderen aus familiären Gründen gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG - gilt nichts anderes. Der Ausländer erhält dadurch auch kein über die gesetzlich geregelten Aufenthaltstitel hinausgehendes "neues" Aufenthaltsrecht, sondern lediglich zwei gleichlautende Aufenthaltstitel, die in ihrem Fortbestand jeweils eigenen Regelungen unterliegen.
Ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG steht dem Kläger jedoch derzeit noch nicht zu. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 28 Abs. 2 AufenthG den dreijährigen Besitz einer speziell zum Familiennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis voraussetzt. [...]
Dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis den dreijährigen Besitz einer speziell zum Familiennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis voraussetzt, ergibt sich zwar nicht ausdrücklich aus der in § 28 Abs. 2 Satz 1 VwGO gewählten Formulierung. Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck der Norm sprechen jedoch dafür, dass die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG erst dann in Betracht kommt, wenn der Ausländer seit drei Jahren im Besitz einer zum Familiennachzug zu Deutschen erteilten Aufenthaltserlaubnis ist.
In Abschnitt 6 des Aufenthaltsgesetzes (§§ 27 bis 36) ist der Aufenthalt aus familiären Gründen geregelt. § 28 AufenthG stellt eine Sondervorschrift dar, die den Familiennachzug zu Deutschen privilegiert. Dabei gilt die Privilegierung für die erstmalige Erteilung sowie die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis sowie für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht und ist gekennzeichnet dadurch, dass es teilweise auf eine Sicherung des Lebensunterhalts nicht ankommt und der Ausländer keinen Beschränkungen bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unterliegt (Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Kommentar, 11. Auflage 2016, § 28 AufenthG Rdnr. 5). Die Sonderstellung, die § 28 AufenthG in den Familiennachzugsvorschriften des Abschnitts 6 des Aufenthaltsgesetzes einnimmt, und die systematische Stellung des Absatzes 2 sprechen eindeutig dafür, dass es sich bei dem dreijährigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nur um eine solche handeln kann, die dem Ausländer zum Familiennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG erteilt worden ist (vgl. dazu ausführlich: Bayerischer VGH, Urteil vom 5. August 2015 - 10 B 15.429 -, AuAS 2015, 218; Dienelt, a.a.O., § 28 AufenthG Rdnr. 41 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, Stand: Februar 2016, A 1 § 28 Rdnr. 40; Welte in: Jakober/Welte, Aktuelles Ausländerrecht, Stand: Dezember 2015, § 28 AufenthG Rdnr. 72 ff.; Tiede, Zur Niederlassungserlaubnis für Ehegatten und minderjährige ledige Kinder Deutscher nach § 28 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, in: DVBl. 2015, 66 ff.). Aufgrund dessen kommt es auf die Frage, ob die dem Gesetzeszweck zugrundeliegende positive Integrationsprognose auch in anderen Fällen gerechtfertigt ist (vgl. dazu: VG Stuttgart, 2. November 2010 - 11 K 437/09 -, juris; Oberhäuser in: Hofmann, Ausländerrecht, Kommentar, 2. Auflage 2016, § 28 AufenthG Rdnr. 49), nicht an.
Da dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erst am 4. Oktober 2013 erteilt worden ist, erfüllt er die Dreijahresfrist des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Kläger möglicherweise bereits zuvor, und zwar mit dem Ende der Sperrwirkung einer vorausgegangenen Ausweisung im Jahre 2010, eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu Deutschen gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG hätte erteilt werden können. Unabhängig davon, ob der Kläger es versäumt hat, rechtzeitig einen entsprechenden Antrag zu stellen, oder ob der Ausländerbehörde ein Fehlverhalten zur Last gelegt werden kann, scheitert ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 AufenthG am fehlenden Besitz einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 28 Abs. 1 AufenthG vor dem 4. Oktober 2013. Eine Aufenthaltserlaubnis kann zwar auch rückwirkend, das heißt für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum, erteilt werden, sofern ein entsprechendes Rechtsschutzbedürfnis besteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt die rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels aber nur für einen solchen Zeitraum in Betracht, der nach der Antragstellung bei der Behörde liegt (BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 -, NVwZ 2009, 1431, m.w.N.). Dass der Kläger vor dem 8. bzw. 21. August 2013 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG gestellt hätte, lässt sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen. Selbst wenn die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu Deutschen in Betracht gekommen wäre, hätte der Kläger dies bei der Ausländerbehörde geltend machen und gegebenenfalls in einem Verwaltungsstreitverfahren durchsetzen müssen. [...]