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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.05.2016 - 13 LA 7/16 - asyl.net: M24072
https://www.asyl.net/rsdb/M24072
Leitsatz:

Ablehnung eines Antrags des BAMF auf Berufungszulassung in einem Dublinverfahren: Das BAMF hat nicht ausreichend dargelegt, warum die erstinstanzliche Entscheidung aufzuheben sei. In der ersten Instanz hatte das VG Oldenburg unter Auswertung zahlreicher Länderinformationen aus dem Jahr 2015 festgestellt, dass Asylsuchenden in Ungarn wegen systemischer Mängel unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.

Schlagwörter: Dublinverfahren, Ungarn, systemische Mängel, Berufungszulassungsantrag, Grundsätzliche Bedeutung, Entscheidungserheblichkeit,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. [...]

Der von der Beklagten allein geltend gemachte Berufungszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist von ihr nicht hinreichend dargelegt worden. [...]

Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag der Beklagten nicht. Die Beklagte hat die Frage, "ob das Asyl- und Aufnahmesystem Ungarns grundlegende Mängel aufweist", als grundsätzlich klärungsbedürftig bezeichnet. Das Nds. OVG hat wiederholt (vgl. Beschl. v. 02.08.2012 - 4 MC 133/12 -, v. 29.01.2014 - 4 LA 167/13 -, v. 17.08.2015 - 4 LA 215/15 - und v. 08.02.2016 - 4 LA 21/16 -) entschieden, dass die Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht bereits bei geringsten Verstößen des Mitgliedstaats gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 widerlegt ist, sondern nur dann, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zur Folge haben (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-411/10 u. Rs. C-493/10 - u. v. 14.11.2013 - Rs. C-4/11 -). Ausgehend von dieser Rechtslage wäre die von der Beklagten aufgeworfene Frage daher nicht entscheidungserheblich und damit auch nicht klärungsbedürftig. [...]

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung systemischer Mängel und der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung auf die fehlende Aufnahmebereitschaft Ungarns und die ungarische Abschottungspolitik verwiesen. Ausweislich zahlreicher Erkenntnisse aus dem Jahr 2015 gewährleiste Ungarn eine den Anforderungen des EU-Rechts bzw. der EMRK genügende Mindestversorgung der Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden nicht. Dies gelte insbesondere hinsichtlich der vom EGMR unter Bezugnahme auf die Aufnahmerichtlinie im Lichte von Art. 3 EMRK eingeforderte Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygiene. Systemische Mängel ergäben sich auch daraus, dass mit der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderung des Asylrechts die ungarischen Behörden Asylsuchende in als "sichere Drittstaaten" eingestufte Länder abschieben könnten, ohne dass zuvor geprüft werde, ob dort eine Abschiebung in weitere dort als "sichere Drittstaaten" angesehene Staaten oder gar eine Abschiebung in den Verfolgerstaat, durchgeführt werde. Diese neuen Entwicklungen habe der EGMR in seinem Urteil vom 3. Juli 2014 - 71932/12 - noch nicht berücksichtigen können. Systemische Mängel ergäben sich schließlich auch aus der regelmäßigen und flächendeckenden tatsächlichen Inhaftierungspraxis hinsichtlich der Dublin-Rückkehrer unter Missachtung der vorgeschriebenen Einzelfallprüfung.

Die Beklagte hätte daher zur Darlegung des von ihr geltend gemachten Zulassungsgrundes substantiiert dartun müssen, weshalb die von ihr aufgeworfene Frage auch in Anbetracht der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts anders als vom Verwaltungsgericht zu entscheiden sein könnte und welche neueren Erkenntnismittel eine derartige Entscheidung nahelegen. Ausführungen dazu lässt die Begründung des Zulassungsantrags der Beklagten jedoch vermissen. Damit ist die Darlegung unzureichend. Der Hinweis der Beklagten darauf, dass die Auffassung des Verwaltungsgerichts zum Vorliegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn im Widerspruch zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 3. Juli 2014 (71932/12) und zu näher bezeichneten Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Regensburg, Düsseldorf, Leipzig, Aachen und Hamburg vom Februar und März 2015 stehe, ändert daran nichts. Denn es liegt auf der Hand und bedarf daher keiner näheren Begründung, dass dieser Hinweis die erforderliche Darlegung nicht ersetzt, zumal die von der Beklagten angeführten Entscheidungen die neuere Entwicklung in Ungarn noch nicht berücksichtigt haben. [...]