VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 17.03.2016 - 13a B 15.30241 - asyl.net: M24068
https://www.asyl.net/rsdb/M24068
Leitsatz:

1. Zuerkennung von subsidiärem Schutz aufgrund drohender Zwangsheirat bis hin zum Ehrenmord einer kurdischen Frau aus dem Irak. Von Zwangsheirat sind im Irak überwiegend die Gruppe der Mädchen und jungen Frauen betroffen.

2. Ob Zivilpersonen im kurdischen Autonomiegebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ausgesetzt sind, erscheint zweifelhaft, weil gemäß den aktuellen Erkenntnisquellen dort keine hohe Gefahrendichte anzunehmen sein dürfte.

(Leitsätze der Redaktion; Das Gericht hatte hier nicht über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG zu entscheiden. Dennoch stellte es eine drohende nichtstaatliche Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Mädchen und jungen Frauen fest.)

Schlagwörter: Irak, Zwangsehe, Kurden, Berufungszulassungsantrag, nichtstaatliche Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, Frauen, Ehrenmord, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 4, EMRK Art. 3, AsylG § 4 Abs. 3, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Im vorliegenden Fall sind jedenfalls die Voraussetzungen der Nr. 2 erfüllt. Der Klägerin drohte wegen der geplanten Zwangsheirat ein ernsthafter Schaden durch ihre eigene Familie. Gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge einer erniedrigenden Behandlung im Sinn von §4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Somit sind potentielle Handlungen von Familienangehörigen im Rahmen des subsidiären Schutzes zu berücksichtigen. [...]

Der Senat ist zu der Erkenntnis gelangt, dass die Klägerin gemäß ihrer Bedrohungsgeschichte der Nötigung zu einer versuchten Zwangsheirat ausgesetzt war und im Fall der Rückkehr außerdem mit schweren Repressalien bis hin zum sog. Ehrenmord rechnen müsste, weil sie sich dem Beschluss des Familienrats, zu heiraten, verweigert hat und ohne Erlaubnis von zu Hause ausgezogen ist. [...]

Zwangsheiraten sind nach den Erkenntnissen der Bundesregierung im Kulturkreis der Klägerin nach wie vor üblich und gehen üblicherweise mit der Androhung gravierender Repressalien einher. Gemäß der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat (vgl. die Legaldefinition "Nötigung zur Eingehung der Ehe mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel" in § 237 StGB) liegt eine Zwangsheirat dann vor, "wenn mindestens einer der zukünftigen Ehepartner durch eine Drucksituation zur Ehe gezwungen wird, wobei in der überwiegenden Zahl der Fälle Mädchen und junge Frauen betroffen sind. Die Betroffene wird zur Ehe gezwungen und findet entweder mit ihrer Weigerung kein Gehör oder wagt es nicht, sich zu widersetzen, weil Eltern, Familie, Verlobte und Schwiegereltern mit den unterschiedlichsten Mitteln versuchen, Druck auf sie auszuüben. Dazu gehören physische und sexuelle Gewalt, Nötigungen (durch Drohungen, Einsperren, Entführung, psychischer und sozialer Druck sowie emotionale Erpressung), Einschränkungen in Bezug auf Lebensstil und Bewegungsspielraum und andere erniedrigende und kontrollierende Handlungen - in drastischen Fällen bis hin zu Ehrenmorden. Die unter Zwang verheirateten Mädchen und jungen Frauen stammen vor allem aus ... oder kurdischem Umfeld." (BT-Drs.17/1213 v. 24.3.2010 S. 7). Nach den aktuellen Erkenntnissen des Auswärtigen Amts werden Frauen in Irak noch immer in Ehen gezwungen (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2015, S. 11). Hierfür spricht auch der Erlass des seit August 2011 in der autonomen Region Kurdistan-Irak geltenden Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt sind (Auswärtiges Amt a.a.O.). Dies verdeutlicht einerseits, dass die kurdische Regionalregierung ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt hat und andererseits, dass die häusliche Gewalt tatsächlich ein Missstand in der dortigen, traditionell patriarchalisch strukturierten Familienverbandsgesellschaft ist. [...]