LSG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29.04.2016 - L 4 AS 182/16 B ER (= ASYLMAGAZIN 8/2016, S. 275) - asyl.net: M23857
https://www.asyl.net/rsdb/M23857
Leitsatz:

Die einmal erworbenen und fortbestehenden Ausbildungs- und Aufenthaltsrechte eines Kindes bzw. der Elternteile aus Art. 10 EU-Freizügigkeits-Verordnung (VO 492/11/EU) bestehen nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig von den in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) festgelegten Vorausetzungen ausreichender Existenzmittel sowie eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes fort. Somit endet ein aus Art. 10 EU-Freizügigkeits-Verordnung abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines sorgeberechtigten Elternteils erst, wenn das Kind seine Ausbildung beendet, volljährig wird, oder der Verlust seines Aufenthaltsrechts nach den Vorschriften des FreizügG/EU festgestellt wird. Daher stehen sowohl Kind als auch Eltern SGB II-Leistungen zu (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 23.02.2010 Ibrahim - C 310/08 sowie LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.1.2016).

Schlagwörter: Unionsbürger, Sozialleistungen, tatsächlicher Schulbesuch, freizügigkeitsberechtigt, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Kind, Kinder, Arbeitnehmer, Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Berufsausbildung, Sicherung des Lebensunterhalts, Krankenversicherung, Sozialleistungen, SGB II,
Normen: VO 492/11/EU Art. 10,
Auszüge:

[…]

Daher kann sich der Antragsteller zu 3. auf ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO 492/11/EU; zuvor Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15.10.1968) berufen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen a.a.O.). Danach können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Art. 10 VO 492/11/EU verleiht den Kindern eines Arbeitnehmers ein eigenes Recht auf Zugang zum Unterricht an einer allgemein bildenden Schule und damit ein autonomes, d.h. nicht vom Aufenthaltsrecht seiner Eltern abhängiges, eigenständiges Aufenthaltsrecht. Dieses Recht hängt weder von der Rechtsstellung als Kind, dem Unterhalt gewährt wird, noch von dem Recht der Eltern auf Aufenthalt im Aufnahmestaat ab. Es gilt für Kinder von Arbeitnehmern wie auch für die Kinder ehemaliger Arbeitnehmer. Art. 10 VO 492/11/EU verlangt nur, dass das Kind [...] in der Zeit in einem Mitgliedsstaat lebte, in der dort zumindest ein Elternteil als Arbeitnehmer wohnte (vgl. EuGH, Urteile vom 13.06.2013 - C 45/12 -, vom 14.06.2012 - C-542/09 -, vom 06.09.2012 - Czop und Punakova - C-147/11/148/11 - und vom 23. 2. 2010 lbrahim - C 310/08 - und Teixeira - C-480/08).

Die restriktive Rechtsauffassung des LSG Niedersachsen-Bremen im Beschluss vom 15. Januar 2016, L 15 AS 226/15 B ER, juris, die sich der Antragsgegner zu Eigen gemacht hat, wird der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union nicht gerecht. Bereits nach dem Wortlaut verlangt die Verordnung nicht, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Kinder eine gleichzeitige berufliche Tätigkeit des Elternteils voraussetzt. Dies ergibt sich aus der Formulierung "beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist". Das vom Antragsgegner angenommene Junktim zwischen tatsächlicher Arbeitstätigkeit und Aufnahme einer Ausbildung ist nicht unionskonform und führt zu Ergebnissen, die mit den Zielen des Freizügigkeitsrechts nicht zu vereinbaren sind.

Damit hat der Antragsteller zu 3. aus Art. 10 VO 492/11/EU ein Recht auf Zugang zum allgemeinen Unterricht sowie zur Lehrlings- und Berufsausbildung erworben. Dieses Recht impliziert ein Aufenthaltsrecht des Kindes eines Arbeitnehmers oder ehemaligen Arbeitnehmers, wenn es seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzt. Der Antragsteller zu 3. hat auch eine Ausbildung i.S.v. Art. 10 VO 492/11/EU aufgenommen und noch nicht beendet. Er nimmt am Unterricht einer Förderschule i.S.v. Art. 10 VO 492/11/EU teil. Er ist Schüler der ...-Schule und besucht die 2. Klasse. Der Antragsteller hat nur an 11 Tagen entschuldigt gefehlt. Mithin ist von einem regelmäßigen Schulbesuch auszugehen. Die Antragsteller zu 1. und 2. nehmen ihre elterliche Sorge für den Antragsteller zu 3. wahr. Als sorgeberechtigte Elternteile haben sie daher ein aus Art. 10 VO 492/11/VO abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

Die einmal erworbenen und fortbestehenden Ausbildungs- und Aufenthaltsrechte eines Kindes bzw. der Elternteile aus Art. 10 VO 492/11/EU bestehen nach der Rechtsprechung des EuGH unabhängig von den in der AL 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen ausreichender Existenzmittel sowie eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes fort und sind autonom gegenüber den unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden, die die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat regeln (EuGH, Urteil vom 23. 2. 2010 lbrahim - C 310/08). Damit endet ein aus Art. 10 VO 492/11/EU abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines sorgeberechtigten Elternteils erst, wenn das aus Art. 10 VO 492/11/EU aufenthaltsberechtigte Kind seine Ausbildung beendet, volljährig wird, soweit es nicht weiterhin der Anwesenheit und der Fürsorge dieses Elternteils bedarf oder der Verlust seines Aufenthaltsrechts nach den Vorschriften des FreizügG/EU festgestellt wird (vgl. überzeugend LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.01.2016, a.a.O.). Eine solche Entscheidung der Ausländerbehörde liegt nicht vor. [...]