OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 17.05.2016 - 8 LA 40/16 - asyl.net: M23823
https://www.asyl.net/rsdb/M23823
Leitsatz:

[Wohnsitzauflage für drittstaatsangehörige Person mit Behinderung wegen fehlender Lebensunterhaltssicherung:]

Wird die einem Ausländer mit einer Behinderung erteilte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen mangelnder selbstständiger Lebensunterhaltssicherung auf der Grundlage des § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mit einer wohnsitzbeschränkenden Auflage versehen, verstößt dies regelmäßig weder gegen das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch gegen Bestimmungen der UN- Behindertenrechtskonvention.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Wohnsitzauflage, Sozialleistungen, behindert, Schwerbehinderung, Lebensunterhaltssicherung, Gleichheitsgrundsatz, Erwerbstätigkeit, Diskriminierungsverbot, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 12a, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 3 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Benachteiligung bedeutet nachteilige Ungleichbehandlung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.1999 - 1 BvR 2161/94 -, BVerfGE 99, 341, 357). Der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbietet Normgebern und Verwaltung, Behinderte gezielt schlechter zu stellen, sofern dies nicht aus zwingenden Gründen geboten ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.1999, a.a.O.). Darüber hinaus ist der Schutzbereich des Grundrechts berührt, wenn Rechtsnormen oder Verwaltungspraxis zwar für Behinderte und Nichtbehinderte gleichermaßen gelten, Behinderte aber wegen der unterschiedlichen Auswirkungen der Rechtsanwendung faktisch (mittelbar) benachteiligt werden, etwa weil sie eine bestimmte rechtliche Gewährleistung aus tatsächlichen Gründen nicht in Anspruch nehmen können (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.7.2015 - BVerwG 6 C 35.14 -, BVerwGE 152, 330, 337). Insoweit enthält Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG den Auftrag an Gesetzgeber und Verwaltung, die Stellung von Behinderten in Staat und Gesellschaft zu stärken (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. u.a., Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BT-Drs. 12/8165 S. 28 f.).

Nach diesen Maßgaben verstößt es regelmäßig nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, die einem Ausländer mit Behinderung nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis wegen einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung mit einer Wohnsitzauflage zu versehen.

Die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung führt nicht zu einer unmittelbaren Benachteiligung von Ausländern mit einer Behinderung. Bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung kann die Wohnsitzauflage in gleicher Weise gegenüber behinderten wie gegenüber nichtbehinderten Ausländern verhängt werden (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen - Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland, 2011, S. 42 f.).

Die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung führt auch nicht zu einer mittelbaren Benachteiligung von Ausländern mit einer Behinderung, etwa weil sie diese faktisch häufiger betrifft.

Zum einen ist das Vorliegen einer Behinderung nur einer von zahlreichen Gründen, die der Erzielung von Erwerbseinkommen und einer darauf aufbauenden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung entgegenstehen können (vgl. BSG, Urt. v. 16.6.2015 - B 4 AS 37/14 R -, juris Rn. 34). Zum anderen ist zweifelhaft, ob die Verhängung einer Wohnsitzauflage bei einer mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung überhaupt Menschen mit Behinderungen signifikant faktisch häufiger betrifft. Dabei verkennt der Senat nicht, dass Menschen mit Behinderungen häufiger als Menschen ohne Behinderungen in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sind und hieran anknüpfend bei der Ausübung einer Erwerbstätigkeit und der Erzielung eines Erwerbseinkommens benachteiligt sein können, und diese Nachteile auch durch die zahlreichen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf nicht vollständig ausgeglichen sind (vgl. hierzu etwa Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode, 2009, insbesondere S. 43 ff., veröffentlicht unter www.bmas.de; Pfaff u.a., Lebenslagen der behinderten Menschen - Ergebnis des Mikrozensus 2009, in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik März 2012, S. 235 f., veröffentlicht unter www.destatis.de; Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeitsmarkt in Deutschland - Die Arbeitsmarktsituation von schwerbehinderten Menschen, 2015, veröffentlicht unter statistik.arbeitsagentur.de). Der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Ermessensentscheidung nach § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit Nr. 12.2.5.2.2 Satz 1 AVwV AufenthG ist aber nicht die Ausübung von Erwerbstätigkeit und die Erzielung von Erwerbseinkommen, sondern die Lebensunterhaltssicherung ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG. In Bezug auf diesen Anknüpfungspunkt ist eine faktische Betroffenheit behinderter gegenüber nichtbehinderten Menschen kaum auszumachen. Denn die Unterhaltsquellen nichtbehinderter und behinderter Menschen speisen sich im Wesentlichen aus Renten und Pensionen (Nichtbehinderte: 18,8 %; Behinderte: 63,0 %), Erwerbseinkommen (Nichtbehinderte: 44,5 %; Behinderte: 19,9 %) sowie Einkünften von Angehörigen (Nichtbehinderte: 29,3 %; Behinderte: 8,7 %) und demgegenüber nur zu einem geringen Teil aus öffentlichen Mitteln, die nach § 2 Abs. 3 AufenthG der Annahme einer selbstständigen Lebensunterhaltssicherung entgegen stehen könnten (vgl. Pfaff u.a., Lebenslagen der behinderten Menschen - Ergebnis des Mikrozensus 2009, a.a.O., S. 240: ALG I, II, Sozialgeld: Nichtbehinderte: 5,5 %; Behinderte: 5,0 %; Sozialhilfe (Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und andere Hilfen in besonderen Lebenslagen): Nichtbehinderte: 0,3 %; Behinderte: 2,3 %; Sonstige Unterstützung (BAföG, Vorruhestandsgeld, Stipendium, Pflegeversicherung, Asylbewerberleistungen): Nichtbehinderte: 0,6 %; Behinderte: 0,9 %). Das Vorbringen der Kläger, behinderte Menschen seien gegenüber nichtbehinderten Menschen durch den Anknüpfungspunkt der mangelnden selbstständigen Lebensunterhaltssicherung als solches faktisch regelmäßig benachteiligt, findet hierin jedenfalls keine Bestätigung.

Im Übrigen läge in einer mittelbaren Benachteiligung behinderter Ausländer auch nicht zwangsläufig ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Denn hieraus folgt im Allgemeinen kein Anspruch darauf, dass eine konkrete mittelbare Benachteiligung unterbleibt oder beseitigt wird. Vielmehr steht Normgebern und Verwaltung bei ihrer Entscheidung darüber, ob und inwieweit sie dem grundgesetzlichen Fördergebot Rechnung tragen, regelmäßig ein Einschätzungsspielraum zu. Einerseits müssen sie die Auswirkungen einer behindertenbedingten Benachteiligung für die Betroffenen in den Blick nehmen. Andererseits haben sie rechtlich schutzwürdige gegenläufige Belange, aber auch organisatorische, personelle und finanzielle Gegebenheiten in die Entscheidungsfindung einzubeziehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.1.1999, a.a.O., S. 357; Beschl. v. 8.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288, 304 ff.; BVerwG, Urt. v. 5.4.2006 - BVerwG 9 C 1.05 -, BVerwGE 125, 370, 383).

Die danach gebotene Abwägung fällt zu Lasten der Ausländer mit einer Behinderung aus. [...]