VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 19.04.2016 - 18 L 81.16 - asyl.net: M23775
https://www.asyl.net/rsdb/M23775
Leitsatz:

1. Von Betroffenen eingeholte ärztliche Stellungnahmen können die nach § 42f SGB VIII erfolgte behördliche Alterseinschätzung in Frage stellen.

2. In ihrer Stellungnahme erklärte eine Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, dass die bei der behördlichen Einschätzung zugrunde gelegten äußeren Merkmale (z.B. Stimme, Falten) einer betroffenen Person für eine Altersbestimmung ungeeignet seien. Solche sekundären Geschlechtsmerkmale seien je nach Beginn der Pubertät bereits mit 13 Jahren vorhanden.

3. In einem solchen Fall spricht viel dafür, dass ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 S. 1 SGB VIII gegeben ist und daher das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung veranlassen muss, wenn es weiterhin von einer Volljährigkeit ausgeht.

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Altersfeststellung, Inobhutnahme, Beendigung der Inobhutnahme, ärztliche Untersuchung, äußere Merkmale, Inaugenscheinnahme, Zweifelsfall, ärztliche Alterseinschätzung, ärztliche Stellungnahme,
Normen: SGB VIII § 42f, SGB VIII § 42, SGB VIII § 42 Abs. 1, SGB VIII § 7 Abs. 1 Nr. 2, SGB VIII § 42f Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Eine auf § 42 Abs. 1 SGB VIII gestützte Inobhutnahme setzt allerdings voraus, dass die in Obhut genommene Person das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Ob der Antragsteller diese vom SGB VIII über eine gesetzliche Begriffsbestimmung für dieses Rechtsgebiet abschließend gezogene Altersgrenze (vgl. für den hier allein maßgeblichen Begriff des Jugendlichen § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII) zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids oder zumindest bis zum heutigen Tage bereits überschritten hatte oder aber seinerzeit und weiterhin noch dem anspruchsberechtigten Personenkreis unterfällt, lässt sich nicht ohne weiteres feststellen. [...]

Dennoch sind aus anderen Gründen derzeit erhebliche Zweifel an der vom Antragsgegner angenommenen Volljährigkeit begründet.

Soweit sich der Antragsgegner für seine Alterseinschätzung auf das Ergebnis einer ebenfalls am 22. Februar 2016 erfolgten Inaugenscheinnahme und Alterseinschätzung einer Mitarbeiterin des Antragsgegners, die sich gemeinsam mit einer Mitarbeiterin der FSD Stiftung gesprächsweise einen persönlichen Eindruck von dem Antragsteller verschafft hatte, stützt, kann ihm nicht gefolgt werden. [...]

Das im Verwaltungsvorgang befindliche Lichtbild weist gleichfalls nicht eindeutig auf Volljährigkeit hin.

Hingegen hat der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren u. a. eine ärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Dr. ... vom ... 2016 eingereicht, welche erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der Alterseinschätzung des Antragsgegners weckt. [...] Sie setzt sich zugleich mit einigen der bei der behördlichen Alterseinschätzung zugrunde gelegten äußeren Merkmale des Antragstellers (tiefe, ausgereifte Stimme, Stirn- und Halsfalten, sichtbarer Kehlkopf, bereits bestehende Geheimratsecken, Stirn und Hände leicht faltig, schmale, hochgewachsene Figur) auseinander und erklärt diese als für eine Altersbestimmung ungeeignet; derartige sekundäre Geschlechtsmerkmale seien je nach Beginn der Pubertät bereits mit 13 Jahren vorhanden. [...] [I]n die gleiche Richtung wie die ärztliche Stellungnahme von Frau Dr. ... weist eine ebenfalls im gerichtlichen Verfahren eingereichte weitere ärztliche Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. ... vom ... 2016. Dieser hat darin seine beim Antragsteller am ... 2016 erhobenen Befunde dargestellt und ist abschließend zu dem Ergebnis gelangt, es habe sich ein altersentsprechender Befund eines 16-jährigen Jugendlichen ergeben. Selbst wenn beide Mediziner kein valides Altersgutachten erstellt haben, erschüttern ihre Einschätzungen die Alterseinschätzung seitens der nicht in höherem Maße fachkundigen Behördenmitarbeiterin vom ... 2016 und damit die Grundlage des angefochtenen Bescheides doch in einem Maße, welches Anlass zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gibt.

Bei dieser Sachlage spricht im Übrigen viel dafür, dass im Falle des Antragstellers ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII (siehe auch: BT-Drs. 18/6392, S. 20 f .) gegeben und damit zumindest jetzt eine Pflicht des Jugendamtes begründet ist, von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen, sollte er weiterhin von einer Volljährigkeit des Antragstellers ausgehen. [...]