Zum Verfahren der Altersfeststellung:
Das in § 42f SGB VIII neugeregelte abgeschichtete behördliche Verfahren zur Altersfeststellung entspricht dem maßgeblichen fachlichen Standard. Eine in diesem Rahmen erfolgende qualifizierte Inaugenscheinnahme hat neben dem äußeren Erscheinungsbild auch die in einem Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand zu berücksichtigen. Das Verfahren ist stets nach dem Vier-Augen-Prinzip durchzuführen. Wird von Volljährigkeit ausgegangen, sind die dafür maßgeblichen Gründe in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren.
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1. Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII sind ausländische Kinder oder Jugendliche, die unbegleitet nach Deutschland kommen, in Obhut zu nehmen. Die Inobhutnahme erfolgt aus Gründen des Kindeswohls und ist unabhängig davon, ob der Betreffende die Eigenschaft eines Flüchtlings besitzt. Voraussetzung ist in jedem Fall aber die Minderjährigkeit.
Das Verfahren zur Feststellung der Minderjährigkeit ist seit dem 01.11.2015 in § 42f Abs. 1 und 2 SGB VIII ausdrücklich gesetzlich normiert (BGBl. I, S. 1802). Danach ist die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen. Sind aussagekräftige Ausweispapiere nicht vorhanden, bleibt zunächst nur die Selbstauskunft des Betreffenden. Begegnet diese Zweifeln, ist eine Alterseinschätzung und -feststellung in Form einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vorzunehmen. Führt die qualifizierte Inaugenscheinnahme nicht zu einem hinreichend sicheren Ergebnis, ist eine medizinische Untersuchung zu veranlassen.
Dieses abgeschichtete Verfahren entspricht dem maßgeblichen fachlichen Standard. Es ist in den "Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen" näher bezeichnet, die auf der 116. Arbeitstagung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vom 14. – 16.5.2014 in Mainz beschlossen wurden (http://www.bagljae.de/downloads/118_handlungsempfehlungen-umf_2014.pdf, vgl. dort S. 15). In der Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII wird ausdrücklich auf diese Handlungsempfehlungen Bezug genommen (BT-Drs. 18/6392, S. 20). Dass die Selbstauskunft des Betreffenden in Zweifelsfällen überprüft werden muss, liegt auf der Hand. Die Inobhutnahme ist für ausländische Jugendliche mit nicht unerheblichen tatsächlichen und rechtlichen Vergünstigungen verbunden. Diese dienen dem Minderjährigenschutz und sollen nur denjenigen zugutekommen, die sie benötigen. Abgesehen davon sind die Betreffenden, wenn aufgrund der Altersfeststellung von einer Volljährigkeit auszugehen ist, nicht schutzlos gestellt. Sie unterliegen, sofern sie die Flüchtlingseigenschaft besitzen, den Schutzregelungen des Flüchtlingsrechts.
Als Ausweispapiere kommen der Reisepass sowie sonstige Identitätsnachweise in Betracht. Sie müssen – unter anderem durch ein Lichtbild – hinreichend verlässlich die Identität zwischen dem Inhaber des Ausweispapiers und der in dem Ausweis bezeichneten Person nachweisen.
Legt der Betreffende kein Ausweispapier vor und ist seine Selbstauskunft zweifelhaft, ist eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchzuführen. Diese erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus schließt sie in jedem Fall – unter Hinzuziehung eines Sprachmittlers – eine Befragung des Betreffenden ein, in der er mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Gegebenenfalls sind noch weitere Unterlagen beizuziehen (vgl. BT-Drs. 18/6392, S. 20). Das Verfahren ist stets nach dem Vieraugenprinzip von zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamtes durchzuführen (vgl. "Handlungsempfehlungen" Anlage 1 b, S. 38). Der beruflichen Erfahrung im Umgang mit jungen Menschen kommt in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Bedeutung zu (vgl. OVG Münster, B. v. 13.11.2014 – 12 B 1280/14 – juris).
Die qualifizierte Inaugenscheinnahme kann zu dem Ergebnis führen, dass zwar Restzweifel an der Selbstauskunft bleiben, insgesamt aber mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit von einer Minderjährigkeit ausgegangen werden kann. In diesem Fall sind die Voraussetzungen erfüllt, um Minderjährigenrecht anzuwenden.
Sie kann auch zu dem Ergebnis führen, dass von Volljährigkeit ausgegangen werden muss, d. h. die Selbstauskunft des Betreffenden unwahr ist. Zu diesem Ergebnis kann das äußere Erscheinungsbild beitragen, das im Einzelfall bereits deutliche Anhaltspunkte für eine Volljährigkeit liefern kann. Bei der Bewertung der in dem Gespräch gewonnenen Informationen ist zu berücksichtigen, dass es um die Beurteilung eines Sachverhalts geht, der ganz in der Sphäre des Betreffenden liegt. Es kann erwartet werden, dass schlüssige und glaubhafte Angaben zum bisherigen Entwicklungsverlauf – unter Einschluss des Zeitpunkts der Ausreise aus dem Heimatland – gemacht werden, die eine zeitliche Zuordnung zulassen und Rückschlüsse auf das Alter erlauben. Pauschale Behauptungen und Ungereimtheiten können in Verbindung mit dem äußeren Erscheinungsbild dazu führen, dass dem Betreffenden die Altersangabe nicht abgenommen werden kann (vgl. OVG Bremen, B. v. 18.11.2015 – 2 B 221/15 – AuAS 2016, 6).
Gelangen die mit der qualifizierten Inaugenscheinnahme betrauten Mitarbeiter des Jugendamtes zu dem Ergebnis, dass von einer Volljährigkeit ausgegangen werden muss, haben sie die hierfür maßgeblichen Gründe in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren. Die Gesamtwürdigung muss in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein. Die oben genannten "Handlungsempfehlungen" geben hierfür Hinweise.
Die qualifizierte Inaugenscheinnahme, die mehr als ein bloßes Abstellen auf die äußerlichen körperlichen Merkmale ist (vgl. dazu VGH München, B. v. 23.09.2014 – 12 CE 14.1833 – NVwZ-RR 2014, 959), kann danach ein durchaus geeignetes Mittel zur Alterseinschätzung und -feststellung sein. Sie kann auch zu dem Ergebnis führen, dass die Altersangabe des Betreffenden nach wie vor als offen anzusehen ist, die Zweifel also weder in die eine noch in die andere Richtung ausgeräumt werden konnten. In diesem Fall ist eine ärztliche Untersuchung in Betracht zu ziehen. Die Gesetzesbegründung nennt für die Durchführung dieser Untersuchung Kriterien und weist darauf hin, dass die schonendste und - soweit möglich - zuverlässigste Methode zu wählen ist (BT-Drs. 18/6392, S. 21). Dem braucht hier aber nicht weiter nachgegangen zu werden, weil im vorliegenden Fall eine ärztliche Untersuchung nicht zur Diskussion steht. [...]