Im Dublinverfahren besteht eine Pflicht zum Selbsteintritt, wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre. Die gesonderte Erwähnung von Personen, die wegen Krankheit auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen sind (Art. 16 Dublin III-VO) zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Ermessensausübung dort einschränken will, wo Grundrechte berührt sind.
Aus dem Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 GR-Charta kann sich bei einer schweren und fortwährenden psychischen Erkrankung die Pflicht zum Selbsteintritt ergeben.
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Ob die Verfahrensumstände im Mitgliedstaat Ungarn mittlerweile systemische Schwachstellen aufweisen, kann hier aber dahinstehen, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens aufgrund der besonderen Umstände dieses Einzelfalls bereits nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist. Danach kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
Aufgrund ihrer besonderen Situation haben die Kläger im vorliegenden Fall auch einen Anspruch darauf, dass ihre Asylanträge in Deutschland geprüft werden. Im Hinblick auf den Charakter dieser Vorschrift als Ermessensnorm (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O. Rn. 65) kann ein Kläger zwar allenfalls ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 40 VwVfG haben (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Stand Dezember 2015, § 27a Rn. 52). Bei der Anwendung dieser fakultativen Bestimmung steht den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen zu (EuGH, U.v. 10.12.2013 a.a.O. Rn. 57). Das Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation ist anzunehmen, wenn in einer Situation, in der Grundrechte des Antragstellers im Falle der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel verletzt würden, die Lage des Antragstellers durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer noch verschlimmert würde (EuGH, U. v. 14.11.2013 a.a.O. Rn. 35 und vom 21.12.2011 a.a.O. Rn. 98; BVerwG, B.v. 27.10.2015). Darüber hinaus besteht eine Pflicht zum Selbsteintritt, wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre.
Gleiches gilt für den Einwand der Beklagten, dass ein Asylbewerber nach der bereits erwähnten Rechtsprechung der europäischen Gerichte und des Bundesverwaltungsgerichts einer Überstellung grundsätzlich nur mit dem Einwand systemischer Mängel entgegentreten kann. Die Vorschriften in der Dublin III-VO für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats dienen zwar prinzipiell allein der zügigen Bearbeitung von Asylanträgen und sind als organisatorische Regelungen nicht individualschützend. Wenn sie aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen (BVerwG, U.v. 16.11.201 - 1 C 4.15 - juris).
Eine solche Fallkonstellation liegt hier aufgrund der schweren und fortwährenden psychischen Erkrankung der Klägerin zu 2. (Ehefrau/Mutter) vor. Aus dem Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 GR-Charta ergibt sich die Pflicht zum Selbsteintritt. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind die in der GR-Charta verankerten Grundrechte bei der Auslegung und Anwendung der Dublin-Vorschriften zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 6.6.2013 – C-648/11 - NVwZ-RR 2013, 735 Rn. 50 ff.; zum Zusammenhang von Grundrechtsschutz und Individualschutz vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 - juris). Außerdem ist zu bedenken, dass nach Art. 19 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Pflicht besteht, Antragstellern mit schweren psychischen Störungen die erforderliche medizinische Versorgung und psychologische Betreuung zu gewähren. Nach Art. 21 dieser Richtlinie ist ferner die spezifische Situation von Personen mit psychischen Störungen zu berücksichtigen. Gemäß den Befunden des Bezirkskrankenhauses Kempten (Fachkrankenhaus für Psychiatrie) vom 7. Januar 2015 und einer niedergelassenen Fachärztin für Psychiatrie vom 26. Februar 2015 liegen bei der Klägerin (nach vier Suizidversuchen) eine schwere depressive Episode nach F32.2 und eine posttraumatische Belastungsstörung nach F43.1 vor. Nach der Diagnose der niedergelassenen Fachärztin besteht auch noch eine erhebliche Selbstgefährdung. Die Behandlung erfolgt ambulant und mittels Verschreibung/Einnahme von drei verschiedenen Psychopharmakon-Tabletten (Neuroleptika und Antidepressivum). Gemäß dem Befund der Universität Konstanz vom 12. November 2014 (S. 18) ist eine langfristige Behandlung bei gleichzeitiger Stabilisierung der Lebenssituation erforderlich. In dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 Asyl maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (3.12.2015) gab es keine Anzeichen für eine positive Veränderung des Krankheitsbilds. Zwischen den Prozessbeteiligten ist unstreitig, dass der Zustand nach wie vor dringend behandlungsbedürftig ist.
Bei derartigem Grundrechtsbezug, der sich hier in einer schwerwiegenden Krankheit äußert, ist eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zum Selbsteintritt anzunehmen. Das ergibt sich aus den Wertungen der Dublin III-VO selbst, die sich nicht nur auf rein verfahrenstechnische Regelungen beschränkt. Die gesonderte Erwähnung von Personen, die wegen Krankheit auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen sind (Art. 16 Dublin III-VO) zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Ermessensausübung dort einschränken will, wo Grundrechte berührt sind. Ähnlich verhält es sich mit den Zuständigkeitsbestimmungen für unbegleitete Minderjährige, die nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern auch dem Grundrechtsschutz dienen und individualschützend sind (BVerwG, U.v. 16.11.2015 - 1 C 4.15 - juris). In derartigen Fällen besteht grundrechtsbedingt die Pflicht zum Selbsteintritt, welche ein subjektives Recht vermittelt (so auch Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, 2014, Art. 17 K2, K3, K6; Funke-Kaiser, GK-AsylVfG , Stand Dezember 2015, § 27a Rn. 182; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 27a AsylVfG Rn. 61; 70; Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 5. Aufl. 2015, Kap. 9 Rn. 46 f.; ders. AsylVfG, 8. Aufl. 2014, § 27a Rn. 62; ders., Änderungen im Dublin-Verfahren nach der Dublin III-VO, ZAR 2014, 519; ders., Ausgewählte Probleme des Eilrechtsschutzes im Dublin-Verfahren, InfAuslR 2015, 164/166, Lübbe, Prinzipien der Zuordnung von Flüchtlingsverantwortung und Individualrechtsschutz im Dublin-System, ZAR 2015, 125/131, a.A. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2015, § 27a AsylVfG Rn. 106). Die Annahme des Selbsteintritts steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK. Danach besteht grundsätzlich kein Anspruch auf weiteren Verbleib in einem bestimmten Staat, um dort eine notwendige medizinische oder psychologische Behandlung fortführen zu können, sofern nicht ausnahmsweise zwingende humanitäre Gründe gegen eine unfreiwillige Ortsveränderung ("removal") sprechen (EGMR, U.v. 4.6.2013 - Daytbegova und Magomedova ./. Österreich, Nr. 6198/12 – hudoc.echr.coe.int. Rn. 63, 67). Dieser Vorbehalt kommt im vorliegenden Fall zum Tragen. Gemäß den vorliegenden fachärztlichen Attesten ist damit zu rechnen, dass im Fall der Abschiebung das labile seelische Gleichgewicht der Klägerin zu 2. in riskanter Weise aus den Fugen geraten würde. Eine solche Maßnahme würde eine Beeinträchtigung der geistigen Gesundheit bewirken und wäre somit ein Eingriff in die geistige Unversehrtheit (Jarras, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 7).
Für die Kläger zu 1., 3. und 4. als Familienangehörige im Sinn von Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO ergibt sich der Selbsteintritt aus den unionsrechtlichen Vorschriften zum Schutz von Ehe und Familie (Art. 7 GR-Charta, Art. 11 Dublin III-VO). [...]