1. Ein Asylverfahren ist nicht im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG bestandskräftig abgeschlossen, wenn zwar die Feststellung des Bundesamtes, dass die Voraussetzungen von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) vorliegen, bestandskräftig geworden ist, nicht aber die Entscheidung über die Versagung internationalen Schutzes; die Sperre für die Erteilung eines Aufenthaltstitels während des Asylverfahrens wirkt dann für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens fort.
2. Ein "gesetzlicher Anspruch" auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG muss ein strikter Rechtsanspruch sein, der sich unmittelbar und abschließend aus dem Gesetz ergibt. Ein Anspruch aufgrund einer "Soll"- Regelung (hier: § 25 Abs. 3 AufenthG) genügt auch dann nicht, wenn kein atypischer Fall vorliegt (Fortentwicklung von BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
1. Der Klägerin kann für den streitbefangenen Zeitraum kein Aufenthaltstitel erteilt werden, weil sie einen Asylantrag gestellt hatte und ihr Asylverfahren noch nicht bestandskräftig abgeschlossen war (§ 10 Abs. 1 AufenthG). Der Verwaltungsgerichtshof ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 1 AufenthG auch in Fällen greift, in denen das mit dem Asylantrag eingeleitete Verfahren zur (bestandskräftigen) Anerkennung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5, 7 AufenthG geführt hat, es im Übrigen aber fortgeführt wird. Die Sperre für die Erteilung eines Aufenthaltstitels während des Asylverfahrens wirkt dann für die Dauer des gerichtlichen Verfahrens fort.
1.1 Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit, dass die Klägerin einen Asylantrag im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylVfG gestellt hatte, über den im streitbefangenen Zeitraum noch nicht insgesamt bestandskräftig entschieden war. Denn das Bundesamt hatte den auf Gewährung von Flüchtlingsschutz und Zuerkennung subsidiären Schutzes gerichteten Antrag der Klägerin abgelehnt und lediglich Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (§ 60 Abs. 7 AufenthG) gewährt. Da die Klägerin mit dem Ziel der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz Klage erhoben hatte, war insoweit die Entscheidung des Bundesamtes über den Asylantrag nicht bestandskräftig geworden.
1.2 Für den Wegfall der Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 1 AufenthG reicht ein lediglich teilweise bestandskräftiger Abschluss des mit dem Asylantrag eingeleiteten Verwaltungsverfahrens nicht aus. Bereits der Wortlaut der Vorschrift erfordert, dass das Asylverfahren insgesamt bestandskräftig abgeschlossen worden ist. Dies bestätigt auch der systematische Zusammenhang mit § 10 Abs. 3 AufenthG, der den Fall einer unanfechtbaren Ablehnung des Asylantrages regelt und auch hier nicht zwischen den einzelnen Entscheidungsgegenständen eines Asylverfahrens differenziert; dies sieht § 10 AufenthG auch sonst nicht vor.
Gegen eine Auslegung, die eine bestandskräftige Zuerkennung nationalen Abschiebungsschutzes ausreichen lässt, um insoweit die Titelerteilungssperre wegfallen zu lassen, spricht mittelbar auch § 51 Abs. 1 Nr. 8 AufenthG, nach dem auch ein nach § 25 Abs. 3 bis 5 AufenthG erteilter Aufenthaltstitel kraft Gesetzes erlischt, wenn ein Ausländer einen Asylantrag gestellt hat. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten erfasst diese Erlöschensregelung zwar nicht den Fall, dass ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG aufgrund einer Feststellung des Bundesamtes nach § 31 Abs. 3 Asyl[Vf]G über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5, 7 AufenthG zu erteilen wäre, weil lediglich ein der Aufenthaltstitelerteilung zeitlich nachfolgender Asylantrag ein Erlöschen des Titels bewirkt. Aus dieser Erlöschensregelung ergibt sich aber der klare Wille des Gesetzgebers, während eines noch nicht insgesamt abgeschlossenen Asylverfahrens den rechtmäßigen Aufenthalt des Ausländers allein durch die Aufenthaltsgestattung nach dem Asyl(verfahrens)gesetz zu sichern und daneben grundsätzlich keinen humanitären Aufenthaltstitel zuzulassen.
1.3 Die Regelungen der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 S. 9) und die der Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (ABl. L 304 S. 12) zum Inhalt des internationalen Schutzes und den nach Zuerkennung eines Schutzstatus auszustellenden Aufenthaltstitel rechtfertigen keine andere Beurteilung. Sie sind nicht auf die Feststellung anzuwenden, ob die Voraussetzungen von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) vorliegen.
1.4 Eine Auslegung, nach der für den Wegfall der Titelerteilungssperre bereits die bestandskräftige Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht durch das Bundesamt aus Anlass eines Asylantrages ausreicht, ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten.
Kern des Verwaltungsverfahrens, das durch einen Asylantrag eingeleitet wird, ist neben dem Begehren auf Anerkennung als Asylberechtigter das auf Zuerkennung von internationalem Schutz (§ 13 Abs. 2 Asyl[Vf]G). Die Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsschutz nach nationalem Recht ist vom Bundesamt nur dann zu treffen, wenn es zu einem Asylantrag entscheidet. Ein isolierter Antrag auf Feststellung allein nationalen Abschiebungsschutzes (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) ist kein Asylantrag und begründet als solcher nicht die Entscheidungszuständigkeit des Bundesamtes nach § 24 Abs. 2 Asyl[Vf]G. Bei Personen, bei denen das Asylverfahren in Bezug auf die Kernbegehren noch nicht bestandskräftig abgeschlossen ist, bewirkt eine bestandskräftige positive Entscheidung allein zum Abschiebungsschutz nach nationalem Recht dann aber keine Unterschiede von solcher Art oder solchem Gewicht, dass zur Vermeidung eines Gleichheitsverstoßes eine aufenthaltsrechtliche Besserstellung gegenüber solchen Personen geboten wäre, bei denen das Bundesamt die Voraussetzungen nationalen Abschiebungsschutzes nicht festgestellt hat. Eine Entscheidung, die von dem Bundesamt kraft Gesetzes (§ 24 Abs. 2 Asyl[Vf]G) nach Stellung eines Asylantrages zu treffen ist, ist eben keine Entscheidung über diesen Asylantrag.
Das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), das auch unverhältnismäßige Einschränkungen des Zugangs zu Gericht verbietet, ist ebenfalls nicht berührt. Die Klägerin wird durch § 10 Abs. 1 AufenthG rechtlich nicht gehindert, nach ablehnender Entscheidung des Bundesamtes ihr Verpflichtungsbegehren auf internationalen Schutz gerichtlich zu verfolgen. Die tatsächlichen aufenthaltsrechtlichen Folgen für den Zugang zu einem humanitären Aufenthaltstitel bei Klageerhebung sind Folge der systematischen Entscheidung des Gesetzgebers, den Aufenthalt von Personen, die internationalen Schutz begehren, einheitlich zu regeln und durch die Aufenthaltsgestattung (§ 55 Asyl[Vf]G) abzusichern. Diese vermittelt - wenngleich selbst kein Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 AufenthG - für die Dauer des Asylverfahrens einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet. Weil auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz das menschenwürdige Existenzminimum sichern, sind die sozialrechtlichen Konsequenzen eines Verweises auf eine Aufenthaltssicherung durch eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asyl(verfahrens)gesetz ebenfalls nicht geeignet, den Zugang zum Gericht in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise zu erschweren.
2. Der Klägerin steht für den streitbefangenen Zeitraum auch kein "gesetzlicher Anspruch" auf einen Aufenthaltstitel zu, der nach § 10 Abs. 1 AufenthG auch schon vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens die Erteilung eines Aufenthaltstitels ermöglicht.
2.1 Als Rechtsgrundlage für die Erteilung eines Aufenthaltstitels kommt für den streitbefangenen Zeitraum hier allein § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in Betracht. Nach dieser Regelung "soll" u.a. Personen, bei denen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist ausgeschlossen, soweit die in § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG benannten Gründe vorliegen; in Bezug auf die Klägerin sind solche Gründe durch das Berufungsgericht nicht festgestellt oder sonst ersichtlich.
2.2 Zu einem "gesetzlichen Anspruch" im Sinne des § 10 Abs. 1 AufenthG führen nicht Regelansprüche oder Ansprüche aufgrund von Sollvorschriften (offengelassen noch BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 24 [zu § 10 Abs. 3 Satz 3 AufenthG]). Ein gesetzlicher Anspruch im Sinne dieser Regelung muss sich unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Ein derart strikter Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle zwingenden und regelhaften Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, weil nur dann der Gesetzgeber selbst eine Entscheidung über das zu erteilende Aufenthaltsrecht getroffen hat (s.a. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2014 - 1 C 15.14 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 16 [zu § 5 Abs. 2 AufenthG]).
Bei einer "Soll"-Regelung, wie sie § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG enthält, fehlt es an einer abschließenden abstrakt-generellen, die Verwaltung bindenden Entscheidung des Gesetzgebers. Zwar ist bei einer Soll-Regelung die Entscheidung der Verwaltung insoweit gebunden, als bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge regelmäßig vorgezeichnet ist. Auch die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (stRspr, BVerwG, Urteile vom 17. September 1987 - 5 C 26.84 - BVerwGE 78, 101 <105, 113>, vom 10. September 1992 - 5 C 80.88 - Buchholz 436.61 § 18 SchwbG Nr. 6 = juris Rn. 18 und vom 22. November 2005 - 1 C 18.04 - BVerwGE 124, 326 <331>) und ist in diesem Sinne im ersten Schritt eine rechtlich gebundene Entscheidung. Anders als bei einer Anspruchsnorm, bei der die tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl positiv als auch negativ abschließend bestimmt sind, kann indes nur aufgrund einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles beurteilt und festgestellt werden, ob ein Ausnahmefall vorliegt; die möglichen Versagungsgründe sind hiernach gerade nicht in abschließender Weise durch den Gesetzgeber vollumfänglich ausformuliert. Diese normative Offenheit in Bezug auf Umstände, die einen Fall als atypisch erscheinen lassen, unterscheiden eine "Soll"-Vorschrift im verwaltungsrechtlichen Sinne auch von solchen Normen, die für die abstraktgenerellen Tatbestandsvoraussetzungen unbestimmte Rechtsbegriffe verwenden. Aus denselben Gründen, bei denen für einen "gesetzlichen Anspruch" jedenfalls im Sinne des § 10 AufenthG ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift auch dann nicht genügt, wenn das Ermessen im Einzelfall "auf Null" reduziert ist (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 21 m.w.N.), fehlt es wegen der Notwendigkeit einer der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen nachgelagerten behördlichen Würdigung aller Umstände des Einzelfalles an einer abstrakt-generellen abschließenden, die Verwaltung bindenden Wertung des Gesetzgebers zu Gunsten eines Aufenthaltsrechts.
Diese aus dem Wortlaut und dem Zweck der Verwendung einer "Soll"-Regelung, der Verwaltung eine abschließende Prüfung und Bewertung aller Umstände des Einzelfalles zu ermöglichen, folgende Auslegung wird systematisch durch die Regelung in § 10 Abs. 3 Satz 3 Halbs. 2 AufenthG bestätigt. Dieser weiteren Ausnahme von der in § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG angeordneten Titelerteilungssperre bedürfte es nicht, wenn in Fällen einer "Soll"-Regelung bereits ein "Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels" im Sinne des § 10 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 AufenthG vorläge. Die Gesetzesbegründung zu dieser durch Art. 1 Nr. 11 des Gesetzes vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) eingefügten Regelung (BT-Drs. 16/5065 S. 164) weist nicht darauf, dass diese Ergänzung ohne konstitutive Wirkung allein eine der Europarechtskonformität des deutschen Rechts geschuldete Klarstellung (in diese Richtung wohl Hailbronner, AuslR, Stand Dezember 2008, § 10 AufenthG Rn. 22 a.E.; Discher, in: GK-AufenthG, Stand Juli 2014, § 10 Rn. 176.12) gewesen wäre (s.a. BayVGH, Urteil vom 6. März 2008 - 10 B 06.2961 - juris Rn. 16). Der unterschiedliche Wortlaut in § 10 Abs. 1 Satz 1 AufenthG einerseits ("gesetzlichen Anspruchs") und Abs. 3 Satz 3 der Vorschrift andererseits ("Anspruchs") weist nicht auf Regelungs- oder edeutungsunterschiede (BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2008 - 1 C 37.07 - BVerwGE 132, 382 Rn. 23).
2.3 Dass nach § 10 Abs. 1 AufenthG ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, weil wichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland es erfordern und die Zustimmung der obersten Landesbehörde vorläge, macht die Klägerin nicht geltend und ist auch sonst nicht ersichtlich.
3. Steht der Klägerin hiernach bereits aus Gründen des materiellen Rechts kein Anspruch auf die rückwirkende Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu, ist nicht zu vertiefen, ob das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für eine auch rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (BVerwG, Urteile vom 9. Juni 2009 - 1 C 7.08 - Buchholz 402.242 § 9a AufenthG Nr. 1 m.w.N. und vom 26. Oktober 2010 - 1 C 19.09 - Buchholz 402.242 § 104a AufenthG Nr. 6) besteht. Auch für die hilfsweise begehrte Feststellung besteht hiernach kein Raum. [...]