OVG Sachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Sachsen, Urteil vom 07.05.2015 - 3 A 210/13 (= ASYLMAGAZIN 3/2016, S. 88 ff.) - asyl.net: M23427
https://www.asyl.net/rsdb/M23427
Leitsatz:

1. Mit Blick auf die besonderen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 AufenthG setzt eine ordnungsgemäße Belehrung des Ausländers über die Rechtsfolgen von Handlungen i.S.v. § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG auch einen Hinweis darüber voraus, dass falsche oder unvollständige Angaben seine Ausweisung zur Folge haben können.

2. Die Beurteilung, ob der Ausländer die ihm zumutbaren Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse erfüllt, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei ist zu beachten, dass zwischen der Ausländerbehörde und dem Ausländer wechselseitige Pflichten bestehen, deren Erfüllung nachgewiesen werden muss.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Belehrung, Neubescheidung, Ermessensausweisung, Täuschung über Identität, Befristung, Wirkung der Ausweisung, Unmöglichkeit der Ausreise, rechtliche Unmöglichkeit, tatsächliche Unmöglichkeit, Ausreisehindernis, Hinweispflicht, Rechtsfolgen,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1, AufenthG § 11, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 1 Bst. b, AufenthG § 55, AufenthG § 55 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

1.2 Die Ermessensausübung der Beklagten ist nicht zu beanstanden.

Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte ihre Ausweisung auf § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b AufenthG gestützt hat, wonach der Ausländer - soweit er zuvor auf die Rechtsfolgen eines solchen Verhaltens hingewiesen wurde - insbesondere auch ausgewiesen werden kann, wenn er trotz bestehender Rechtspflicht nicht an Maßnahmen der für die Durchführung dieses Gesetzes oder des Schengener Durchführungsübereinkommens zuständigen Behörden mitgewirkt hat. Denn der einer Identitätstäuschung i. S. v. § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG innewohnende Vorwurf rechtsuntreuen Verhaltens wirkt schwerer als derjenige mangelnder Mitwirkung i. S. v. § 55 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AufenthG. Ist die Ausweisung eines Ausländers wegen mangelnder Mitwirkung gerechtfertigt, so gilt dies erst recht, wenn seine Ausweisung - wie diejenige gegenüber der Klägerin zu 1 - auf einer vorsätzlichen Identitätstäuschung beruht.

Gemäß § 55 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Voraussetzung ist danach zunächst eine gegenwärtige Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder sonstigen erheblichen Interessen der Bundesrepublik Deutschland, was bei Vorliegen von spezial- als auch von generalpräventiven Gründen gegeben sein kann.

Nachdem die Klägerin zu 1 dem Bundesamt das Original ihres Personalausweises (IDCard) sowie ihre Meldebescheinigung vorgelegt hat und mangels Anhaltspunkten im Bescheid des Bundesamtes im Asylfolgeverfahren anzunehmen ist, dass die dort angeordnete kriminaltechnische Überprüfung des Personalausweises keine Unregelmäßigkeit offengelegt hat, geht der Senat davon aus, dass die jetzigen Angaben der Klägerin zu ihrer Identität der Wahrheit entsprechen. Spezialpräventive, in der Vergangenheit liegende Gründe setzen eine Wiederholungsgefahr voraus. Da die Klägerin ihre Identität offengelegt hat, ist eine Wiederholungsgefahr aber aktuell nicht mehr zu besorgen.

Eine in der Vergangenheit liegende Beeinträchtigung kann jedoch eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen rechtfertigen, nämlich wenn ein erhebliches öffentliches Interesse daran besteht, den Aufenthalt zu beenden, um andere Ausländer vor gleichartigem Verhalten abzuschrecken (Discher a.a.O. § 55 Rn. 52; str., a.A.: zu (§ 10 AuslG: BVerwG, Urt. v. 15. Mai 1984 - 1 C 59.81 -, juris Rn. 23). Dies ist bei abgelehnten Asylbewerbern der Fall, die - wie die Klägerin zu 1 - als abgelehnte Asylbewerber mittels einer Identitätstäuschung versuchen, die Rechtskraft einer negativen Asylentscheidung zu umgehen. In solchen Fällen besteht gerade angesichts massenhafter Identitätstäuschungen und der damit verbundenen erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden auch ein generalpräventives Ausweisungsinteresse, andere Asylbewerber von der Vorspiegelung falscher Identitäten abzuhalten (Discher a.a.O. § 55 Rn. 660 f.).

Die Beklagte hat die Belange der Kläger auch fehlerfrei abgewogen. Nach § 55 Abs. 3 AufenthG sind bei der Entscheidung über die Ausweisung die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und die sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen (§ 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG), ferner die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft leben (§ 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG), sowie die in § 60a Abs. 2 und 2b AufenthG genannten Voraussetzungen für die Aussetzung der Abschiebung (§ 55 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG). Als ordnungsrechtliche Maßnahme muss die Ausweisung sachgerecht, geeignet, erforderlich und angemessen sein, um die angestrebten spezialpräventiven oder generalpräventiven Zwecke zu erreichen. Zwar kann der Klägerin zu 1 eine mangelnde wirtschaftliche Verwurzelung - anders als das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang meint - nicht vorgehalten werden. Dass die Familie allein von öffentlichen Mitteln lebt, dürfte vornehmlich darauf zurückzuführen sein, dass der Klägerin zu 1 die Erwerbstätigkeit bislang in Form einer Nebenbestimmung zur Duldung untersagt ist. Gleichwohl ist dem Verwaltungsgericht im Übrigen jedoch darin zuzustimmen, dass die Abwägung nicht zugunsten der Kläger ausfällt. Da ihr allein das Sorgerecht über die Kinder zusteht und zwischen den Kindern und ihrem Vater sowie zwischen diesem und der Klägerin zu 1 jeglicher Kontakt abgebrochen ist, steht der Ausweisung auch nicht der Schutz des Art. 6 GG entgegen, zumal dem Vater der Umgang mit den Klägern zu 2 bis 4 gerichtlich untersagt wurde. Die Klägerin zu 1 hält sich seit bestandskräftiger Ablehnung ihres Asylerstantrags illegal in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie, ebenso wie die Kläger zu 2. bis 4. aus allenfalls abgeleitetem Recht nach § 32 Abs. 1 AufenthG, können sich daher auch nicht auf eine Verwurzelung im Sinne von Art. 8 EMRK berufen (BVerwG, Urt. v. 26. Oktober 2010 - 1 C 18.09 -, juris).

1.3 Die Ausweisungsverfügung leidet jedoch insoweit an einem Mangel, als es die Beklagte versäumt hat, die Wirkungen der Ausweisung der Klägerin zu 1 gleichzeitig mit der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu befristen (BVerwG, Urt. v. 15. Januar 2013 - 1 C 10/12 -, juris Rn. 26). Fehlt die notwendige Befristung der Ausweisung, hat das aber auch nach Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes 2011 nicht zur Folge, dass die als solche rechtmäßige Ausweisung aufzuheben ist. Vielmehr ist in der Anfechtung der Ausweisung zugleich - als minus - für den Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung ein (Hilfs-)Antrag auf Verpflichtung der Ausländerbehörde zu einer angemessenen Befristung ihrer Wirkungen zu sehen (BVerwG, Urt. vom 10. Juli 2012 a. a. O. Rn. 39).

Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die in § 11 Satz 1 und Satz 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen werden auf Antrag befristet. Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht.

Der Senat hält es für angemessen, die Wirkungen der Ausweisung i.S.v. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG auf ein Jahr nach Ausreise der Klägerin zu 1 aus der Bundesrepublik Deutschland zu befristen. Zwar hat die Klägerin über einen Zeitraum von 14 Jahren vorsätzlich über ihre Identität getäuscht. Sie hat sich dadurch nach § 95 Abs. Abs. 2 Nr. 2 AufenthG strafbar gemacht, hat Personal- und Sachmittel der Behörden und Gerichte beansprucht und hat hierdurch die Zeit des Bezugs von Sozialleistungen verlängert. Sie ist jedoch strafrechtlich nicht anderweitig in Erscheinung getreten. Auch unterstellt der Senat zu ihren Gunsten, dass sie ihre Identitätstäuschung insbesondere auch im Interesse ihrer Kinder und deren Schulausbildung aufrechterhalten hat.

Die Wirkungen der Ausweisung der Klägerin zu 1 entgegen § 11 Abs. 1 Satz 6 AufenthG so zu befristen, dass das Erfordernis ihrer Ausreise entfällt (vgl. BVerwG, Urt. v. 6. März 2014 -, NVwZ 2014, 1107), kommt allerdings noch nicht in Betracht, da die Klägerin zu 1 seit ihrer Einreise im Jahr 1998 bis zur Offenbarung ihrer wahren Identität im März 2012 in Verwaltungsverfahren über ihre Identität getäuscht hat. Zwar werden Täuschungshandlungen im Gerichtsverfahren - anders als vom Verwaltungsgericht angenommen - von § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG nicht erfasst (Discher, in: GK-AufenthG, Stand: 79. EL, März 2015, § 55 Rn. 272 f.). Jedoch hat die Klägerin zu 1 auch nach Erlass des streitgegenständlichen Widerspruchsbescheids weiterhin den Tatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG verwirklicht, indem sie gegenüber der Ausländerbehörde ihre Identitätstäuschung aufrechterhalten hat, um dadurch die Aussetzung ihrer Abschiebung zu bewirken. Angesichts dieses langen Zeitraums sowie der Tatsache, dass seit Aufgabe der Identitätstäuschung erst drei Jahre verstrichen sind, überwiegt aktuell noch das öffentliche Interesse, am Erfordernis der Ausreise festzuhalten.

2. Soweit die Kläger begehren, die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG zu verpflichten, ist das verwaltungsgerichtliche Urteil zu ändern. Obwohl die Kläger derzeit unverschuldet an ihrer Ausreise gehindert sind, kann die Beklagte nicht zur Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse verpflichtet werden, da die Beklagte ihr nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumtes Ermessen, ob sie vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen absieht, bislang nicht ausgeübt hat. Der Anspruch der Klägerin zu 1 nach § 25 Abs. 5 AufenthG sowie der Kläger zu 2 bis 4 aus abgeleitetem Recht nach § 32 Abs. 1 AufenthG ist daher gemäß § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO auf eine Neubescheidung beschränkt.

Nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG kann einem Ausländer, der wie die Kläger als abgelehnte Asylbewerber (vgl. zuletzt Bescheid des Bundesamts vom 25. November 2013) vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine freiwillige Ausreise oder Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Liegen die Voraussetzungen des Aufenthaltsanspruchs im Übrigen vor, verdichtet sich die Ermessensentscheidung bei 18-monatiger Duldung nach § 25 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zu einem Regelanspruch (Burr, in: GK-AufenthG a. a. O., § 25 Rn. 190). Die Kläger können sich auf ein tatsächliches Ausreisehindernis berufen, da ihnen die für eine Rückkehr in die Volksrepublik China erforderlichen Reisepapiere fehlen.

Nach § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG darf eine Aufenthaltserlaubnis jedoch nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt nach § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG insbesondere vor, wenn er falsche Angaben macht oder über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder zumutbare Anstrengungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift obliegt es dem ausreisepflichtigen Ausländer, alles in seiner Kraft Stehende und ihm Zumutbare dazu beizutragen, damit etwaige Ausreisehindernisse überwunden werden. Welche Bemühungen ihm hierbei zumutbar sind, ist unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalls zu entscheiden. Das gilt auch für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer bestimmten Mitwirkungshandlung und für die Frage der Kausalität zwischen der Pflichtverletzung und der fehlenden Ausreisemöglichkeit. Dabei darf dem Ausländer nur die Verweigerung solcher Mitwirkungshandlungen nicht vorgehalten werden, die erkennbar ohne Einfluss auf die Möglichkeit der Ausreise sind (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10. März 2009 - 1 B 4.09 -, juris Rn. 6). Das Verhalten des Ausländers muss mit anderen Worten für die Schaffung oder Aufrechterhaltung eines aktuell noch bestehenden Ausreisehindernisses zumindest mitursächlich sein (vgl. Nr. 25.5.5 der Allgemeinen VwV zum AufenthG).

Gemessen hieran ist aktuell davon auszugehen, dass die Kläger kein Verschulden an dem tatsächlichen Ausreisehindernis trifft. Alles deutet darauf hin, dass die Klägerin zu 1 ihre Identitätstäuschung endgültig aufgegeben und inzwischen wahre Angaben zu ihrer Identität macht. Dafür sprechen das Original ihrer Meldebescheinigung sowie das Original ihres Personalausweises, dessen Echtheit das Bundesamt im Asylfolgeverfahren kriminaltechnisch überprüfen ließ. Es ist davon auszugehen, dass diese Überprüfung keine Zweifel an der Echtheit des Personalausweises der Klägerin zu 1 ergeben hat, da sich solche im Bescheid des Bundesamtes vom 25. November 2013 nicht finden.

Auch ist aktuell davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 alle ihr zumutbaren Anforderungen zur Beseitigung des Ausreisehindernisses erfüllt. Die Beurteilung, ob der Ausländer die ihm zumutbaren Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse erfüllt, ist eine Frage des Einzelfalls. Dabei ist zu beachten, dass zwischen der Ausländerbehörde und dem Ausländer wechselseitige Pflichten bestehen, deren Erfüllung im Einzelnen nachgewiesen werden muss (BayVGH, Urt. v. 11. Dezember 2006 - 24 B 06.2158 -, juris m.w.N.; Burr a.a.O. § 25 Rn. 180).

Nach § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist der Ausländer verpflichtet, seine Belange und für ihn günstige Umstände, soweit sie nicht offenkundig oder bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich beizubringen. Wie aus § 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und dem subjektiven Begriff des "Verschuldens" folgt, ist der Ausländer von sich aus zur Mitwirkung verpflichtet. Dies bedeutet einerseits, dass er an allen Handlungen mitwirken muss, die die Behörden von ihm konkret verlangen, er aber auch eigenständig die Initiative ergreifen muss, um das Ausreisehindernis zu beseitigen, indem er sich etwa im Heimatland oder über Dritte um die Beschaffung von Dokumenten bemüht oder er Zeugen benennt. Eine Grenze der Mitwirkungspflicht bildet freilich die Frage, welche Möglichkeiten dem Ausländer bei objektiver Betrachtungsweise bekannt sein können. Diesen Mitwirkungspflichten des Ausländers stehen Aufklärungs- und Hinweispflichten der Ausländerbehörde gegenüber. Denn nach § 82 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll der Ausländer von der Ausländerbehörde auf seine Pflichten nach § 82 Abs. 1 AufenthG sowie auf seine wesentlichen Rechte und Pflichten nach dem Aufenthaltsgesetz hingewiesen werden.

Davon ausgehend hat die Klägerin zu 1 das tatsächliche Ausreisehindernis aktuell nicht zu vertreten. Die Richtigkeit ihrer Behauptung, dass die Auslandsvertretungen der Volksrepublik China die Ausstellung eines Passes davon abhängig machen, entweder eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Zusicherung dergestalt vorzulegen, dass eine solche im Falle der Ausstellung eines Passes erteilt werde, wird durch die Auskünfte der Clearingstelle für Passbeschaffung und Flugabschiebung Rheinland- Pfalz vom 30. April und 5. Mai 2015 bestätigt. Dass die Auslandsvertretungen der Volksrepublik China für die freiwillige Ausreise ein sogenanntes Travel Document ausstellen, war der Klägerin zu 1 und offensichtlich auch weder der Ausländerbehörde der Beklagten noch der Widerspruchsbehörde bekannt. Vielmehr wurde die Klägerin zu 1 ausweislich der Verwaltungsakten von diesen Behörden immer nur aufgefordert, einen Pass zu beantragen. Wurde sie immer nur zur Passbeschaffung aufgefordert und war selbst den Behörden nicht bekannt, dass die Rückübernahme durch die Volksrepublik China in einem solchen Fall mittels eines Travel Document sichergestellt werden kann, kann ihr die Tatsache, dass sie ein solches bislang nicht beantragt hat, nicht als Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten zugerechnet werden.

Obwohl die Kläger derzeit unverschuldet an ihrer Ausreise gehindert sind, kann die Beklagte jedoch nicht zur Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnisse verpflichtet werden, da die Beklagte ihr nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumtes Ermessen, ob sie vom Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen absieht, bislang nicht ausgeübt hat. Im Regelfall müssen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG erfüllt sein. Dies gilt auch für den Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, wobei § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bestimmt, dass in diesem Fall von der Anwendung der Absätze 1 und 2 des § 5 AufenthG abgesehen werden kann. Ausweislich des Widerspruchsbescheids ist die Beklagte bei ihrer Ermessensausübung insoweit davon ausgegangen, dass der eingeschränkte Ermessensspielraum des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG eröffnet ist, wonach die Erteilungsvoraussetzungen in der Regel vorliegen müssen.

Gründe, weswegen das von der Ausländerbehörde der Beklagten nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszuübende Ermessen auf Null reduziert sein könnte, sind hier nicht ersichtlich. Soweit die Klägerin zu 1 auf Repressionen bei ihrer Rückkehr infolge der Ein-Kind-Politik und auf begrenzte Entwicklungsmöglichkeiten des Klägers zu 2 hinweisen, macht sie (zielstaatsbezogene) Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG geltend. Eine Prüfung dieser Verbote ist der Ausländerbehörde untersagt. Insoweit ist sie gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die (positive oder negative) Feststellung des Bundesamts hierzu gebunden (BVerwG, Urt. v. 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 -, juris Rn. 17). Das Ermessen der Ausländerbehörde ist auch nicht wegen eines inländischen Abschiebungshindernisses auf Null reduziert.

Den Klägern stehen keine Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK zur Seite, da sie sich nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand ihres Aufenthalts berufen können. Das geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst, auch soweit es keinen familiären Bezug hat, die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen - angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen - bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerwG, Urt. v. 26. Oktober 2010 - 1 C 18.09 -, juris Rn. 14 m.w.N.). Ein Privatleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK, das den Schutzbereich der Vorschrift eröffnet und eine Verwurzelung im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte begründet, kommt grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines schutzwürdigen Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (BVerwG, Urt. v. 26. Oktober 2010 a.a.O.; SächsOVG, Urt. v. 3. Juli 2014 - 3 A 28/13 -, juris Rn. 28; offengelassen von EGMR, Urt. v. 16. September 2004, NVwZ 2005, 1046, und v. 8. April 2008, ZAR 2010, 189).

Bei der Entscheidung, ob die einzelnen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG im Ermessenswege nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erfüllt sind, hat die Ausländerbehörde im Allgemeinen zu berücksichtigen, dass der Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG nach der Gesetzesbegründung gerade der Gedanke zugrunde liegt, die Erfüllung aller Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG könne bei humanitären Aufenthaltstiteln typischerweise nicht verlangt werden. Es ist daher eine umfassende Abwägung vorzunehmen (Burr a.a.O. § 25 Rn. 188). Dabei ist die gesetzgeberische Intention zu berücksichtigen, sog. Kettenduldungen zu vermeiden, sowie auch der Grad der Verantwortlichkeit des Ausländers für das Ausreisehindernis.

Was die Regelerteilungsvoraussetzung des gesicherten Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1AufenthG) anbetrifft, wird die Beklagte zu berücksichtigen haben, dass der Klägerin zu 1 die Erwerbstätigkeit ausweislich der Nebenbestimmung zu den ihr erteilten Duldungen bislang untersagt ist.

Hinsichtlich der Erfüllung der Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) wird die Ausländerbehörde zu beachten haben, dass die Klägerin zu 1 der Pass- bzw. der Passersatzpflicht genügende Papiere i.S.v. § 3 AufenthG nicht in zumutbarer Weise beschaffen kann. Ohne Aufenthaltserlaubnis oder eine entsprechende Zusicherung kann sie keinen Pass erhalten. Das von den Auslandsvertretungen der Volksrepublik China zur freiwilligen Ausreise gedachte Travel Document dürfte kein zulässiges Passersatzpapier i.S.v. § 3 AufenthG sein. Denn er zählt wohl nicht zu den unter § 3 AufenthV aufgeführten amtlichen Ausweisen nichtdeutscher Stellen.

Die Ausländerbehörde wird schließlich abzuwägen haben, ob sie von der Erteilungsvoraussetzung des Nichtvorliegens eines Ausweisungsgrundes (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) absehen kann. Dabei dürfte sie zu berücksichtigen haben, dass aktuell noch von einem fortdauernden öffentlichen Ausweisungsinteresse auszugehen ist. Zu Gunsten der Klägerin zu 1 dürfte in diesem Zusammenhang jedoch die Vermutung streiten, dass sie ihre Identitätstäuschung über lange Zeit zumindest auch im Interesse ihrer Kinder, der Kläger zu 2 bis 4, aufrechterhalten hat, dass ihr außer der Identitätstäuschung und der Mitwirkungspflichtverletzungen im Verwaltungsverfahren keine weiteren Verstöße gegen Mitwirkungspflichten vorzuwerfen sind und sie auch strafrechtlich nicht anderweitig in Erscheinung getreten ist. Ferner wird zu berücksichtigen sein, dass die Kläger zu 2 bis 4 wenn auch nicht aus rechtlicher Sicht, dann aber bei tatsächlicher Betrachtung, in der Landeshauptstadt Dresden verwurzelt sind und soweit bekannt zur Zeit alle erfolgreich ihre Schulbildung durchlaufen. Vor diesem Hintergrund ist wohl kaum zu erwarten, dass die Kläger freiwillig ausreisen werden. Folglich gibt es auch sachliche Gründe, den Aufenthalt der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland zu legalisieren.

Sollte die Ausländerbehörde der Beklagten in Ausübung ihres nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zustehenden Ermessens zum Ergebnis kommen, dass sie von der Einhaltung der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG absieht, dürfte sich der Anspruch der Klägerin zu 1 auf die o.g. Ermessensentscheidung nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG zu einem Regelanspruch verdichten, da ihre Abschiebung über einen Zeitraum von mehr als 18 Monaten ausgesetzt war. [...]