LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 11.11.2015 - L 6 AS 197/15 B ER (= ASYLMAGAZIN 1-2/2016, S. 58 f.) - asyl.net: M23336
https://www.asyl.net/rsdb/M23336
Leitsatz:

Der Arbeitnehmerbegriff ist im Lichte des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht auszulegen und zielt lediglich auf ein Mindestmaß an Teilnahme am Wirtschaftsleben des aufnehmenden Staats. Ist eine Person durch äußere Umstände oder aufgrund vorrangiger Verpflichtungen, nicht aber aufgrund autonomer Entscheidungen zugunsten anderer als wirtschaftlicher Aktivitäten derart gebunden, dass sie nur mit einem Teil ihres quantitativen Leistungsvermögens am Wirtschaftsleben teilnehmen kann und realisiert sie diesen Teil überwiegend, kann im Wortsinne kaum mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit gesprochen werden.

Schlagwörter: Unionsbürger, geringfügige Beschäftigung, freizügigkeitsberechtigt, Arbeitnehmer, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitnehmereigenschaft, untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a, SGB II § 7 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Senat sieht jedoch in der von der Antragstellerin zu 1. zum 1. Oktober 2015 wieder aufgenommenen Tätigkeit bei ... eine Tätigkeit, die erneut die maßgebliche Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsrechts begründet.

Der Arbeitnehmerbegriff des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist weder im engeren nationalrechtlichen Sinne arbeitsrechtlich, noch gar sozialrechtlich und damit auch nicht grundsicherungsrechtlich zu verstehen; er ist vielmehr ausschließlich im Lichte des Unionsrechts (vgl. bereits EuGH, Urteil vom 19. März 1964 - Rs. 75/63 - Unger), hier speziell im Sinne des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts auszulegen (vgl. zur abweichenden Arbeitnehmerdefinition i. S. der koordinationsrechtlichen VO [EG] Nr. 883/2004 Langer, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 45 AEUV Rn, 3). Dabei ist der Arbeitnehmerbegriff nicht in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) definiert, zu deren Umsetzung das FreizügG/EU ergangen ist. Eine Begriffsdefinition ergibt sich auch nicht aus dem europäischen Primärrecht in Gestalt der EU-vertraglichen Freizügigkeitsgewährleistung (Art. 39 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union [AEUV]) und der Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (VO [EWG] Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968), die als Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (VO [EU] Nr. 492/2011 vom 5. April 2011) neu kodifiziert worden ist. Aus den Erwägungsgründen der VO [EWG] Nr. 11612/68 ergibt sich aber immerhin, dass das Freizügigkeitsrecht "gleichermaßen Dauerarbeitnehmern, Saisonarbeitern, Grenzarbeitnehmern oder Arbeitnehmern zu[steht], die ihre Tätigkeit im Zusammenhang mit einer Dienstleistung ausüben." Daraus und aus dem primären Zweck des Freizügigkeitsrechts, einen diskriminierungsfreien Zugang zum Arbeitsmarkt des aufnehmenden Mitgliedsstaats zu gewähren, folgt notwendigerweise ein weiter Arbeitnehmerbegriff, der lediglich auf ein Mindestmaß an Teilnahme am Wirtschaftsleben des aufnehmenden Mitgliedsstaats zielt (vgl. Steinmeyer, in: Fuchs, a.a.O., Art. 7 VO Nr. 492/2011 Rn 14 m.w.N.). Dabei ist ohne Relevanz, inwieweit das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte Entgelt geeignet ist, das vom jeweiligen Mitgliedsstaat definierte Existenzminimum zu decken. Die Arbeitnehmereigenschaft begründen vielmehr auch nicht existenzsichernde Teilzeittätigkeiten, sofern es sich dabei um tatsächliche und echte Tätigkeiten handelt, wobei - gemessen wiederum am Willen der frelzügigkeitsberechtigten Personen, im Wirtschaftsleben tätig zu sein - nur solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (EuGH, Urteil vom 23. März 1982 - Rs. 53/81 - Levin, Rn. 17). Zur Prüfung dieser Voraussetzungen hat sich das Tatsachengericht auf objektive Kriterien zu stützen und dabei eine Gesamtbetrachtung aller Umstände der Rechtssache vorzunehmen, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeit und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, wobei (lediglich) Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft ohne Bedeutung sein sollen (EuGH, Urteil vom 6. November 2003 Rs. C-418/01 - Ninni-Orasche, Rn. 27 f.).

An diesen Maßstäben gemessen ist die Antragstellerin zu 1. in ihrer seit 1. Oktober 2015 erneut bei … ausgeübten Tätigkeit als Arbeitnehmerin zu qualifizieren. Sie erbringt nach Weisungen der ... für diese Leistungen (vorliegend Haushaltshilfe), für die sie eine Vergütung erhält, und erfüllt damit die Wesensmerkmale eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des Unionsrechts (vgl. EUGH, Urteil vom 21. Juni 1988 - Rs. 197/86 - Lawrie-Blum, Rn, 17). Diese Tätigkeit ist - davon geht der Senat nach Anhörung der Antragstellerin zu 1. und der Arbeitgeberin und nach Vorlage der Haushaltsschecks aus - dergestalt tatsächlich und echt, dass sie wirklich ausgeübt wird und eine Vereinbarung über zu erbringende Arbeitsleistungen nicht etwa lediglich zum Schein geschlossen worden wäre. Darüber herrscht zwischen den Beteiligten letztlich auch kein Streit. Unerheblich ist es nach der o.g. Rechtsprechung ferner, ob die Antragstellerin zu 1. die Tätigkeit aus der Motivation heraus erneut aufgenommen hat, den für sie sozialleistungsrechtlich günstigen Arbeitnehmerstatus wiederzuerlangen. Der Senat brauchte dem daher auch nicht weiter nachzugehen.

Die danach einzig relevante und zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die tatsächliche und echte Tätigkeit ihrem Umfang nach als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren ist, ist angesichts der dargelegten europarechtlichen Maßstäbe auch nach Ansicht des Senats zu verneinen. Sinn und Zweck der freizügigkeitsrechtliches Bestimmungen gebieten es, auch die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. als Haushaltshilfe, die ohne Weiteres einen Bezug zum Wirtschaftsleben aufweist und für die es in der Bundesrepublik Deutschland einen relevanten Arbeitsmarkt gibt, als echtes Arbeitsverhältnis im Sinne des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Hilfstätigkeiten im Haushalt, wie sie von der Antragstellerin zu 1. ausgeübt werden, typischerweise in Teilzeit ausgeübt werden, wobei der jeweilige Umfang nicht selten deutlich unterhalbschichtig ist. Im besonderen Fall ist - entgegen der Auffassung des Antragsgegners - zudem zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 1. durch die erforderliche Betreuung des Antragstellers zu 2. und die verpflichtende Teilnahme am Integrationskurs objektiv gehindert ist, einer Erwerbstätigkeit in (erheblich) größerem zeitlichem Umfang nachzugehen, als die zurzeit ausgeübten 20 Stunden im Monat. Die vom EuGH für die Beurteilung der Wesentlichkeit verlangte Gesamtbetrachtung schließt die Berücksichtigung solchermaßen konkurrierender Verpflichtungen jedenfalls nicht aus. Vielmehr dürfte es nach Ansicht des Senats bei zweckentsprechender Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften durchaus naheliegen, zur Beurteilung der völligen Unwesentlichkeit einer Tätigkeit die Arbeitszeit der betreffenden Person in Beziehung zu setzen zu der für sie disponiblen, frei verfügbaren Zeit. Ist eine Person durch äußere Umstände oder aufgrund vorrangiger Verpflichtungen - nicht aber aufgrund autonomer Entscheidungen zugunsten anderer als wirtschaftlicher Aktivitäten - derart gebunden, dass sie nur mit einem Teil ihres quantitativen Leistungsvermögens am Wirtschaftsleben teilnehmen kann und realisiert sie diesen Teil überwiegend, kann im Wortsinne kaum mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit gesprochen werden. Anderenfalls würde gerade sozial schutzbedürftigen Personengruppen wie Schwangeren, Alleinerziehenden oder behinderten Menschen die Teilhabe an der unionsvertraglich gewährleisteten Freizügigkeit in unverhältnismäßiger Weise erschwert. [...]