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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 13.02.2015 - 33 L 39.15 V - asyl.net: M23329
https://www.asyl.net/rsdb/M23329
Leitsatz:

In Konstellationen, in denen die Gewährung eines Visums von der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung abhängig ist, gebietet das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes wohl die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung innerhalb des Visumsverfahrens, weil anders ausreichender Rechtsschutz für den Antragsteller nicht zu erlangen wäre.

Schlagwörter: Ausweisung, Familienzusammenführung, Visum, nationales Visum, Visumsverfahren, inzidente Prüfung, Familiennachzug, Familieneinheit, effektiver Rechtsschutz, Suspensiveffekt, Rechtskraft,
Normen: AufenthG § 6 Abs. 4, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller dürfte einen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums haben. Für den von ihm angestrebten dauerhaften Aufenthalt ist ein vor der Einreise zu erteilendes (nationales) Visum für das Bundesgebiet nach § 6 Abs. 4 AufenthG erforderlich. Die Erteilung dieses Visums richtet sich nach den für die Aufenthalts- und Niederlassungserlaubnis geltenden Vorschriften (§ 6 Abs. 4 S. 2 AufenthG). Als Rechtsgrundlage kommt danach hier vorrangig § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 3 in Verbindung mit § 27 Abs. 1 AufenthG in Betracht, deren Voraussetzungen vorliegen.

Allerdings bestimmt § 11 Abs. 1 S. 1 und 2 AufenthG, dass einem Ausländer selbst bei Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen u.a. dann kein Aufenthaltstitel und damit auch kein Visum erteilt werden darf, wenn er – wie der Antragsteller – aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden ist. Zwar hat die Klage gegen die Ausweisung aufgrund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Bayreuth aufschiebende Wirkung, jedoch schränkt § 84 Abs. 2 S. 1 AufenthG diesen Suspensiveffekt bereichsspezifisch dahin ein, dass Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt lassen. In derartigen Fällen ist somit zwar die Vollstreckung der sich aus der Ausweisung ergebenden Ausreisepflicht während des Bestehens der aufschiebenden Wirkung unzulässig, der Eintritt der inneren Wirksamkeit – und damit insbesondere auch des Einreise- und Aufenthaltsverbots aus § 11 Abs. 1 AufenthG – wird durch die aufschiebende Wirkung aber nicht gehemmt (mit zahlreichen weiteren Nachweisen vgl. nur VG Berlin, Urteil v. 22.10.2008 – VG 34 V 56.07, zit. n. juris).

Dies dürfte jedoch nach vorläufiger rechtlicher Würdigung der Kammer nicht gänzlich unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Ausweisung gelten. Vielmehr gebietet das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes in derartigen Konstellationen wohl die inzidente Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung innerhalb des Visumsverfahrens, weil anders ausreichender Rechtsschutz für den Antragsteller nicht zu erlangen wäre (für vergleichbare ausländerrechtliche Konstellationen vgl. BVerwG NVwZ 2003, 217 [218]; VGH München, Beschluss v. 19.01.2015 – 10 CS 14.2656, zit. n. juris; VGH Mannheim, NVwZ-RR 2007, 419 [420] m.w.N.; Beschluss v. 11.03.2008 – 13 S 418/08, BeckRS 2008, 34471; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Mai 2014, § 84, Rn. 49; ferner Maor, in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 6. Ed., Stand: 01.01.2015, § 11 AufenthG, Rn. 6; a.A. noch VG Berlin, a.a.O.). Die Kammer geht – auch unter den hier zu berücksichtigenden erhöhten Anforderungen des Rechtsschutzes nach § 123 VwGO gegenüber dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO – mit dem Verwaltungsgericht Bayreuth davon aus, dass die gegen den Antragsteller verfügte Ausweisung rechtswidrig ist. Insbesondere teilt die Kammer die Auffassung des Verwaltungsgerichts Bayreuth, dass derzeit sowohl die aktenkundigen Äußerungen des Antragstellers als auch dessen sporadische Kontakte zu Personen der salafistischen Szene ebenso wie die weiteren zur Begründung der Ausweisung herangezogenen Umstände weder hinreichend zur Feststellung einer Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland sind noch Beleg seiner Beteiligung an Gewalttätigkeiten bei der Verfolgung politischer Ziele beziehungsweise eines öffentlichen Aufrufs zur Gewaltanwendung oder einer Drohung mit Gewaltanwendung sind, wie § 54 Nr. 5a AufenthG voraussetzt. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann insoweit auf die nachvollziehbaren und im Übrigen auch auf einer persönlichen Anhörung des Antragstellers im dortigen Erörterungstermin basierenden Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts Bayreuth (Beschluss v. 20.05.2014 – B 4 S 14.222, veröffentlicht in BeckRS 2014, 52932) verwiesen werden, die sich die Kammer nach sorgfältiger Prüfung zu eigen macht. Erweist sich die Ausweisung danach als rechtswidrig, kann die Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 S. 1 und 2 AufenthG dem Anspruch des Antragstellers nicht entgegen gehalten werden. Auch die allgemeine Erteilungsvoraussetzung aus § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt, dürfte danach erfüllt sein.

Es spricht somit viel dafür, dass der Antragsteller in der Hauptsache obsiegen würde. Im Ergebnis muss die Kammer über die Erfolgsaussichten in der Hauptsache aber nicht abschließend befinden. Denn dem dem Antragsteller aus den einfachgesetzlichen Normen zustehenden Recht auf Familiennachzug zu seinen Angehörigen als auch dem Recht dieser Angehörigen auf Familieneinheit aus Art. 6 GG drohten durch die Versagung der einstweiligen Erteilung eines Visums schwere und unzumutbare Nachteile, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten.

Nach der zum Verfahren gereichten Mitteilung des Verwaltungsgerichts Bayreuth ist eine Terminierung des Klageverfahrens des Antragstellers nicht vor dem Sommer dieses Jahres zu erwarten. Dementsprechend ist mit einer bestands- bzw. rechtskräftigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht und seine Ausweisung nicht vor Ablauf mindestens eines halben Jahres zu rechnen – was sich unter Einbeziehung der Verfahrenslaufzeiten etwaiger Rechtsmittel noch um einen erheblichen Zeitraum verlängerte. Während dieser Zeit wäre der Antragsteller von seinen beiden kleinen Kindern und seiner Ehefrau, allesamt deutsche Staatsangehörige, getrennt. Denn der Antragsteller hat durch Vorlage eines ärztlichen Attestes glaubhaft gemacht, dass jedenfalls sein noch nicht einjähriger Sohn wegen einer Infektanfälligkeit nicht über einen längeren Zeitraum in Marokko sein könnte. Bei seinem älteren Sohn, der derzeit noch bei ihm in Marokko weilt, hat ein Arzt des Weiteren eine Angststörung wegen der Trennung von der Mutter diagnostiziert, weshalb eine mit der Trennung vom Vater verbundene Rückführung zur Mutter medizinisch indiziert sei. Schließlich leidet nach dem eingereichten hausärztlichen Attest auch seine Ehefrau unter der Trennung vom Antragsteller, was sich bereits in einer psychischen Überforderung und in einer Verstärkung einer schon zuvor angelegten chronischen Schmerzerkrankung zeige. Somit geht die bislang nur wenige Wochen dauernde Trennung bereits jetzt mit schwerwiegenden Nachteilen für den Antragsteller und seine Familie einher.

Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist zudem maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG NVwZ 2013, 1207 [1208]). Dies ist hier nach dem glaubhaft gemachten Vortrag des Antragstellers der Fall, zumal bei einer Vater-Kind-Beziehung hinzu kommt, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht per se durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich wird, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben kann (vgl. BVerfG NVwZ 2006, 682 [683]; ZAR 2006, 28 m.w.N.). Ein hohes, gegen die Versagung eines Aufenthaltstitels sprechendes Gewicht haben die Folgen einer Trennung insbesondere, wenn – wie hier – ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss v. 01.12.2008 – 2 BvR 1830/08, BeckRS 2011, 87023; OVG Hamburg, Beschluss v. 15.09.2014 – 3 Bs 185/14, BeckRS 2014, 56858).

Der damit begründete Anordnungsgrund ist demnach von solchem Gewicht, dass die grundsätzlich zu stellenden Anforderungen an das Vorliegen eines Anordnungsanspruches, mithin der Wahrscheinlichkeit des Obsiegens in der Hauptsache gemindert sind. Denn je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung der geltend gemachten Rechtspositionen zurückgestellt werden (vgl. Kuhla, in: Posser/Wolff, BeckOK VwGO, Ed. 32, Stand: 01.01.2015, § 123, Rn. 84 m.w.N.). Nach diesen Maßstäben überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers, einstweilen mit einem Visum in die Bundesrepublik einreisen zu können, das öffentliche Interesse an der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung zur Durchführung des Visumverfahrens. Die Kammer hat insofern auch einbezogen, dass der Antragsteller – wäre er nicht, offenbar blauäugig, ausgereist – aufgrund der von ihm erwirkten aufschiebenden Wirkung seiner Klage vor dem Verwaltungsgericht Bayreuth weder hätte abgeschoben werden können noch ihm bei einer etwaigen illegalen Wiedereinreise in das Bundesgebiet wohl zuzumuten wäre, für die Durchführung eines Visumsverfahrens erneut auszureisen (vgl. dazu OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 30.03.2009 – OVG 12 S 28.09, zit. n. juris; VGH Kassel, Beschluss v. 17.06.2013 – 3 B 968/13, BeckRS 2013, 53964).

Angesichts der vorstehenden Ausführungen ist vorliegend auch die teilweise Vorwegnahme der Hauptsache durch Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Ausstellung eines vorläufigen Visums gerechtfertigt. [...]